Zusammenhelfen statt zusammenarbeiten

Management im Kopf: Folge 27. Komplexität meistern. Der Organismus – das beste Leitmodell.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner versierte Wissenschaftler und anerkannte Experten vor, die über wertvolle Erfahrungen und verlässliches Wissen für den professionellen Umgang mit komplexen Problemen und Systemen verfügen. Aktuell verfasst sie zu den bisherigen Beiträgen und Leserbriefen Follow-ups.

„Welche Vorstellung sollte man von einem komplexen System haben, damit man einen sinnvollen Zugang bekommt?“ Das ist die jüngste Frage, die bei mir eingetroffen ist. Stellen Sie sich einfach vor einen großen Spiegel, und betrachten Sie sich von oben bis unten. Zusammen mit allen und allem in Ihrer Umgebung, mit denen und dem Sie in Austauschbeziehungen stehen, sind Sie ein komplexes System. Würde man Sie von Ihrer Umgebung isolieren, zum Beispiel indem man Sie komplett mit Frischhaltefolie einwickelte, wären Sie bloß ein Mensch. Und zwar ziemlich schnell ein toter. Denn das Mindeste, was Sie aus Ihrer Umgebung zum Überleben brauchen, ist Sauerstoff zum Atmen, und der kommt aus Ihrer Umgebung.

Was man sich unter einem System vorstellt

Unter einem System an sich stellt man sich am besten erstens eine Einheit vor, und zwar zweitens zusammen mit all ihren Austauschbeziehungen in ihrer Umgebung, die drittens durch bestimmte Phänomene gesteuert und reguliert werden. Diese Vorstellung gilt auch für komplexe Systeme, es kommen bloß viele weitere Merkmale hinzu. Eines der wichtigsten: Hier liegen so viele verschiedene Austauschbeziehungen und unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten vor, dass ein Einzelner nur noch einen Bruchteil davon, aber keiner mehr das Ganze erkennen und überblicken kann. Genau das ist zum Beispiel auch die Situation von Unternehmen.

Der menschliche Organismus als Leitmodell

Schauen Sie sich noch einmal im Spiegel an, aber diesmal wie ein Arzt. Was geht alles unter Ihrer Haut vor? Wie kommt es, dass Sie auf der Welt sind? Dass Sie noch leben? Dass Ihre Atmung von selbst geht? Ihr Herz von selbst schlägt? Ihr Stoffwechsel von selbst läuft? Ihre Gedanken kommen und gehen? Auch Ihre Organe und Glieder bilden ein Wirkgefüge aus unzähligen Austauschbeziehungen und damit ebenfalls ein komplexes System. Ihr Organismus hat sich selbst erschaffen, und er steuert und reguliert sich selbst. Die Selbststeuerung und Selbstregulierung, anders gesagt die Eigendynamik, ist das wichtigste Charakteristikum für alle komplexen Systeme. Sie stehen nur still, wenn sie tot sind, und sie funktionieren durch innere Antriebe, nicht durch äußere. Organismen an sich, und ganz besonders der menschliche Organismus, waren daher von Anfang an das Leitmodell für die Systemtheorie und Kybernetik.

Keine Meinung ist besser als eine (1) Meinung

Was in komplexen Systemen alles gleichzeitig passiert, ist zu dicht, zu viel und verändert sich zu schnell für das einzelne menschliche Gehirn. Die Konsequenz: Es braucht – wie im Nervensystem – die Verständigung über die Zustände und Ereignisse in Echtzeit und zwar aus vielen verschiedenen Perspektiven. Sinnvoll beurteilen kann man die Beobachtungen Einzelner nur noch anhand gemeinsamer valider Modelle, ein einzelnes Modell genügt dafür nicht. Nicht von ungefähr durchlaufen Fachärzte daher eine Ausbildung, die rund 12 bis 15 Jahre dauert, um das Wichtigste zu verstehen und zu beherrschen. Trotzdem müssen sie ihr Berufsleben lang auch auf das Wissen und Können ihrer Kollegen aus allen anderen Fachgebieten zurückgreifen.

Abhängigkeiten erkennen, verstehen, meistern

Alles in komplexen Systemen funktioniert und reagiert „je nachdem“, das heißt je nach aktuellem Zustand. Dieser verändert sich mit jedem neuen Impuls, der verarbeitet wird, also so gut wie ununterbrochen. Es gibt nur noch höchst individuelle Situationen, und deshalb gibt es keine Patentlösungen, die man in Büchern, Zeitungen oder im Web nachlesen und erfolgreich nachahmen kann. Was in einem System auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert, funktioniert in keinem anderen System oder zumindest nicht so. Was gestern noch geklappt hat, kann heute völlig falsch sein. Alles ist abhängig von Vielem, die eine eindeutige Ursache gibt es nicht. Der professionelle Umgang mit Komplexem besteht daher darin, in jeder Hinsicht und auf jeder Ebene die entscheidenden Abhängigkeiten zu erkennen und zu meistern.

Klischees töten statt Systeme killen

Und nun stellen Sie sich vor, in Kliniken hätte jeder eine andere Vorstellung davon, wie der Organismus gebaut ist, funktioniert, wodurch Krankheiten entstehen, wie man sie identifiziert und erfolgreich behandelt. Abgesehen davon, dass sich jeder vernünftige Mensch weigern würde, sich unter solchen Umständen der Medizin anzuvertrauen, wäre das analog so wie es im Management heute noch weitgehend läuft. So verschleudert man nicht nur wertvolle Ressourcen. So produziert man Krisen. So killt man Systeme. So trägt man nichts zu ihrem Erfolg bei. Was unter diesen Umständen noch gelingt, darf man den Selbstregulierungskräften eines Systems zuschreiben, sie allerdings sind irgendwann erschöpft. Viel, viel besser wäre es, all die Klischees zu töten, die vom Management und von Managern herrschen, und sie durch die heute erforderlichen Qualifikationen zu ersetzen. Wer sich heute noch einredet, dass er allein genug weiß und kann und niemanden anderen braucht, um das Nötige zu erkennen und verstehen, der könnte morgen schon von der Mindestsicherung abhängig sein. Die Welt wartet nicht, bis man selbst lernbereit ist. Sie macht einen auch nicht lernfähig. Darum muss sich jeder selbst kümmern. So ist das Leben gebaut, auch wenn man es sich anders vorgestellt hat.

Komplexe Systeme und Organismen bedeuten dasselbe

Nun hilft es, sich vorzustellen, dass man in früheren Zeiten unter den Worten „Organismus“ und „System“ noch dasselbe verstand. Der Begriff „Organismus“ meint ebenso wie das Wort „System“ ein einheitlich gegliedertes Ganzes, ob ein Lebewesen, eine Pflanze, eine Institution oder ein anderes Wirkgefüge. Das Wort „System“ ist bloß abstrakter. Unter „Organismus“ kann man sich etwas Konkreteres vorstellen. Nehmen wir noch das Wort „Organ“ hinzu, von dem sich der Begriff „Organismus“ ableitet. Es entstammt dem lateinischen „organum“, und bedeutet so viel wie Werkzeug, Instrument, Hilfsmittel. Ein Organ ist also für bestimmte Funktionen oder Wirkungen eingerichtet, der Begriff „Organ“ hat entsprechend vielfache Bedeutung.

Zusammenhelfen statt zusammenarbeiten

In der Biologie nennt man die Subsysteme eines Organismus „Organe“. In der Organisationslehre nennt man eine mit Führungsaufgaben beauftragte Person oder Personengruppe „Leitungs-, Lenkungs- oder Führungsorgan“. Die Nachrichtenmedien von Behörden, Parteien oder Institutionen werden „Presseorgane“ genannt. Es ist trotzdem wenig sinnvoll, für seine eigene berufliche Situation danach zu fragen, ob man eher die Funktion eines Organs, Hormons oder Blutkörperchens innehat. Sinnvoller ist es, sich zu fragen, weshalb man auf der Gehaltsliste steht und zu denken, dass in einem gesunden Organismus die einzelnen Elemente nicht nur zusammenarbeiten, sondern zusammenhelfen, um das Überleben zu sichern. Zusammenhelfen ist also die wichtigste Leitidee.

Organisieren ist wichtiger als Führen

Das Wort „organisieren“ bedeutet dementsprechend, etwas systematisch für bestimmte Zwecke und Ziele zu strukturieren, zusammenzufügen, vorzubereiten, zu gestalten. Egal, was produziert wird, ob etwa Marmelade, Sanitäreinrichtungen, Apps oder Dienstleistungen: In einer digital vernetzten und getriggerten Welt sind alle und alles von allen und allem abhängig. All das ist von jeweils inneren Vorgängen getrieben, die sich von außen weder klar erkennen noch direkt wunschgemäß beeinflussen lassen. Man kann komplexe Systeme also nicht auf herkömmliche Weise führen. Man kann sie nur so organisieren, dass ihre Konfiguration zunehmend konstruktivere, intelligentere und innovativere Performance hervorbringen kann. Und zwar wie ein Organismus – wie von selbst. Das kann man. Aber man muss nicht. Man kann auch weiterhin Zauberlehrling spielen. Bloß, der Zaubermeister, der die Katastrophe in letzter Minute stoppt  – das sollte man unbedingt wissen  – den gab es zwar noch zu Goethes Zeiten, heute aber wird er aus den hier genannten Gründen nicht kommen.

PS: De facto ist selbstverständlich alles, was hier geschrieben wurde, weitaus komplexer und komplizierter. Es war nur ein Versuch, Ihre Phantasie in die passende Richtung anzuregen…

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche kybernetische Denkwerkzeuge für den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens in Wien stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität?

Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner.
Sie wird darauf eingehen.

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