Wahrscheinlich stimmt das Gegenteil

Management im Kopf: Folge 42. Komplexität meistern. Wie man sich für den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik am besten neu orientiert.

Eine Orientierungshilfe für gute Aussichten. In ihrer Kolumne „Management im Kopf“ führt Maria Pruckner in die System Sciences als wichtigste Leitwissenschaft für das Problemlösen und Managen im 21. Jahrhundert ein.

Mein Beitrag über Paradigmata von vergangener Woche hat bei einigen Lesern Irritation ausgelöst: „Wie konnte so ein radikaler Paradigmenwechsel so unbemerkt passieren?“ Die kürzeste Antwort liegt in einer tiefsitzend eingebauten Funktion von allen Nervensystemen und Gehirnen: Sie errechnen/generieren eine stabile Realität. Das heißt, sie formen aktuelle Wahrnehmungen zu einer Wirklichkeit, die man bereits kennt. Sie verwandeln also Neues in etwas Altbekanntes, Vertrautes, ohne dass man es bemerkt. Wem nicht bewusst ist, dass er in seiner Schädelkapsel einen Magier, Illusionisten oder Zauberkünstler spazieren trägt, dem entgeht täglich Vieles von hoher Relevanz. Daher heute eine Art Reiseführer für eine sichere Orientierung in der neuen Zeit.

Wo Paradigmenwechsel entstehen

Paradigmenwechsel, die die Situation einer ganzen Menschheit verändern, passieren eher nicht mitten unter den Menschen, sondern in den Köpfen weniger Wissenschaftler, die häufig in der Grundlagenforschung tätig sind. Es ist eher unwahrscheinlich, dass man laufend Newsletter über ihre neuen Ansätze von ihnen bekommt.

Wie Paradigmenwechsel öffentlich werden

In die Öffentlichkeit geraten neue Paradigmata zuerst durch wissenschaftliche Publikationen. Man findet sie in der Regel nicht unter den Bestsellern. In den Medien werden sie dann mit der Zeit in den anspruchsvolleren Wissenschaftsformaten reflektiert, in denen ihre Protagonisten zu Wort kommen.

Prämissen, die man für unwesentlich hält

Im Laufe der Jahre treten neue Paradigmata dann vor allen in Publikationen über ihre Anwendungen auf. Dort werden sie, wenn überhaupt, meist nur noch in den Vorwörtern und Einleitungen erwähnt. Diese werden aber sehr gerne beim Lesen übersprungen. Das trägt zusätzlich zur Verwechslung von Neuem mit Altem bei.

Wie es ist, wenn man einen Paradigmenwechsel übersieht…

Übersieht man einen Paradigmenwechsel, ist es, als wäre man während der Film-Retrospektive eines Schauspielers unbemerkt eingeschlafen, nehmen wir Kevin Costner. Gerade war er noch als Bodyguard in eine Sängerin verliebt. Man wacht wieder auf, jetzt liebt er einen Wolf. Es passt nichts mehr zusammen.

Aus zwei mach eins

Kannte man nun die Filme Bodyguard und Der mit dem Wolf tanzt nicht, könnte man sich einbilden, einen Film zu sehen, in dem sich eine Popsängerin zu einem Wolf verwandelt hat, den US-Lieutenant aus dem 19. Jahrhundert zu zähmen versucht, der gerade noch ein Bodyguard in den 1990-Jahren war. Das glaubt man doch nicht, oder?

Die spinnen ja

Nun ist es leider so, dass man als noch nicht ganz am Leben gereifter Mensch dazu neigt, andere für verrückt zu halten, wenn einem selbst etwas seltsam vorkommt. Neue komplexe Situationen kommen Ungeübten leider immer seltsam vor. Es hilft dann, sich zuerst immer zu fragen, ob man vielleicht selbst spinnt.

Apropos spinnen

Der Volksmund ist ja ein weiser Lehrer. Wenn er „spinnen“ sagt, meint er, dass aus vielen einzelnen Fasern ein Ganzes zusammengedreht wird. Es hilft, sich vorzustellen, dass man mit seinem Gehirn alle Tage und alle Zeit seine eigenen Filme dreht. Sollen sie kein Blödsinn werden, hilft es sehr gute Drehbücher zu haben.

Der Unterschied zwischen Bildung und Einbildung

In guten Drehbüchern sind die entscheidenden Details so ausgewählt und organisiert, dass sie zusammen ein funktionierendes System bilden. Im realen Leben hat diese Funktion entsprechende geistige Bildung inne. Das Gehirn erkennt nur, was es kennt. Bei allem, was es nicht kennt, wird es zum Spinner, es bildet sich etwas ein.

Wenn man einen Paradigmenwechsel übersehen hat

Was tut man nun, wenn man einen Paradigmenwechsel übersehen hat? Man setzt man sich lange genug mit geschlossenen Augen hin und stellt sich vor, dass der Film, den man bisher gesehen hat, zu Ende ist. Bevor man die Augen wieder öffnet, stellt man sich vor, es läuft ein ganz anderer Film mit völlig anderer Handlung.

Neuorientierung

Was kann man tun, wenn man die Augen wieder offen hat? Man kann sich neu orientieren; sich erkundigen, wer den Film gemacht hat, wer seine Protagonisten und Darsteller sind und worum es geht. Zugegeben, man wird dann nicht gleich als erfolgreicher Hauptdarsteller agieren können. Aber man kennt sich zumindest bald aus.

Jetzt aber im Ernst

Wie soll man sich nun im aktuellen systemwissenschaftlichen Paradigma konkret zurechtfinden? Am besten stellt man sich vor, dass dieses Paradigma viel näher an der wahren Natur der Wesen und Dinge liegt, als jenes, auf das man zuvor gesetzt hat. Es verspricht weniger Irrtümer und Pannen, das sollte es attraktiv genug machen.

Am Beispiel agiler Unternehmen, Institutionen und Berufe

Für Jäger und Sammler, Bauern und Winzer, Hand- und Fuhrwerker, Ärzte und Krankenpflegende, Künstler und Filmschaffende, Generäle und Offiziere, Soldaten und Polizisten, Pannen- und Rettungsdienste, Hoteliers und Skilehrer und für viele andere Berufe war und ist zum Beispiel Agilität schon immer das Normalste der Welt.

Uhrwerk ist nicht mehr

Nur in Unternehmen, deren Organisationsstrukturen aus der Massenproduktion kommen, stellt man sich unter Menschen Zahnräder vor und unter der Organisation kein eigendynamisches System aus vielen verschiedenen Systemen, das wie ein Lebewesen tickt, sondern Uhrwerke, in denen die Rädchen zuverlässig ineinandergreifen.

Nix mehr mit Unruhe

Unter Chefs zeitgemäß gestalteter Organisationen stellt man sich daher am besten auch keine Unruhe mehr vor, die die Zahnräder antreibt und unter der Aufzugskrone mit dem Federwerk, welche die Unruhe in Schwung halten, nicht mehr die Gehälter, die ausbezahlt werden.

Chefs als Regisseure

Chefs sollten sich vielmehr, je nach Charakter ihrer Einrichtung und Produkte, wie Theater- oder Filmregisseure verstehen, die mit Dramaturgen zusammenarbeiten, die über das entsprechende Hintergrundwissen für überzeugende Geschichten verfügen und mit Autoren, die wissen, wie ein System organisiert werden muss.

Achtung. Gefährliche Falle!

Man muss aber auch beim Modell der Regie achtgeben, welches Konzept man wählt. Produktionen, in denen ausschließlich die Vorstellung eines Regisseurs realisiert wird, niemand sonst etwas zu sagen oder gestalten hat, entsprechen dem Konzept des Regietheaters. Das wäre das Modell Uhrwerk und nicht gut für das Geschäft.

Publikumsorientierung

Weit erfolgsversprechender ist das Regie-Modell, in dem sich Entscheidungen konsequent an den Bedürfnissen, der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung des Publikums orientieren und das Ensemble auf und hinter Bühne seine Fähigkeiten voll einbringt. Das macht allen viel mehr Freude, und das ist gut für das Geschäft.

Nix mehr Rampensau

Erfolgreiche Chefs der Gegenwart und Zukunft stellen das Gegenteil der Rampensau dar. Sie können komplexe Systeme am besten beurteilen, gestalten und behandeln. Sie wirken nicht auf, sondern vor und hinter der Bühne. Sie wechseln für ihre Gestaltung abwechselnd in die Perspektive der Kunden und jener der Produktion.

Bewährte Modelle in der Praxis

Wenn sie anders als bisher denken und handeln sollen, fragen Manager nach erfolgreichen praktischen Beispielen. Man muss sich aus drei verschiedenen praktischen Beispielen das Beste herausholen, um ein tolles, verlässliches Modell für den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik zu entwickeln.

Kliniken, Theater und Filmproduktionen

In gut geführten Kliniken, Theatern und Filmproduktionen sind die Kriterien für lebensfähige Systeme heute am ausgereiftesten realisiert. Hier steht der professionelle Umgang mit Eigendynamiken im Vordergrund, anders gesagt Professionalität. Fehlt sie, läuft es sofort schief, und das bekommen Patienten bzw. Zuschauer mit.  

Intelligente, lernende Systeme

In den genannten Beispielen gibt es nur Projekte, keine starren Prozesse, konsequente, systematische Ergebnisorientierung, das Unerwartete als das Erwartete und keine Garantie für das Gelingen. Deshalb spielen die Intelligenz, Lernfähigkeit, Eigenverantwortung und Disziplin der Beteiligten die Hauptrolle. Interessiert Sie das nicht, hilft vielleicht das: Sagen Sie sich eine Woche lang bei jedem Ihrer Gedanken: Wahrscheinlich stimmt das Gegenteil von dem, was ich glaube. Das könnte Ihr Bewusstsein für das zeitgemäße Denken aktivieren. Das wird von Unsicherheit begleitet sein. Aber keine Sorge, genau das bringt Sie der Wahrheit über das Leben näher.

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche kybernetische System-Modelle und Denkwerkzeuge für den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens in Wien stattet und bildet sie Führungskräfte sowie interne und externe Experten aus, die in Unternehmen und Institutionen komplexe Situationen professionell meistern müssen.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität?
Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner.
Sie wird darauf eingehen.

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