Wer modelliert, führt

Management im Kopf: Folge 60. Komplexität meistern – Selbstführung. Ob Hierarchien, Führen oder Digitalisieren, alles hängt von der Abstraktionsfähigkeit und von System-Modellen ab.

Wer Komplexes meistern will, muss bei der Selbstführung beginnen. Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne "Management im Kopf" dazu Anregungen auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse aus den Systemwissenschaften.

Hierarchien sind im Management schon lange ein Thema. Eines, das leider viel zu emotional diskutiert wird. Denn der wichtigste Aspekt von Hierarchien wird dadurch meistens übersehen: Die Systemarchitektur und ihre Abstraktionsebenen. Das Meistern von Komplexem setzt im analogen Leben und in der digitalen Welt das gekonnte Abstrahieren voraus. Weil im Management gerne Kraut und Rüben durcheinander gewirbelt und Äpfel mit Birnen verwechselt werden, eine kleine Navigationshilfe für die nötige Ordnung im Kopf. Und ein etwas längerer Text als üblich, damit die üblichen Probleme überflüssig werden.

Die passende Abstraktionsebene

Angenommen, ich lenke ein Auto und mein Beifahrer warnt mich plötzlich: „Achtung, da vorne ist ein System!“ Ich würde ihn nur fragen: „Was sonst?“ Würde er mich vor etwas Braunem da vorne mit etwas Grünem dran warnen, würde ich die Straße vermutlich nach einem braunen Fahrzeug mit grünem Anhänger absuchen und ihn fragen: „Warum?“ Warnte er mich vor einem Baum, der vor uns im Weg liegt, würde ich sofort bremsen. Ob es etwa eine Birke, Eiche oder Fichte wäre und welche Art davon genau, wäre mir in diesem Fall egal. Welche Abstraktionsebene man jeweils wählt, hängt von der Relevanz der Information ab, um die es gerade geht.

Was wird durch Abstrahieren besser?

Durch entsprechendes Abstrahieren kristallisieren sich wesentliche Eigenschaften, Regelmäßigkeiten und Regeln heraus, die je nach Abstraktionsgrad mehr oder weniger generell gültig sind. Das hilft, mit wenigen Worten und wenig relevantem Wissen vieles richtig zu verstehen. Das Abstrahieren erlaubt das schnelle, konzentrierte, systematische Denken und das rasche Verarbeiten großer Informationsmengen. Es macht nicht nur Ordnung und Ruhe im Kopf, es führt auch viel schneller zu treffenden Problemdiagnosen und -lösungen.

Mathe und Systemtheorie? Igitt!

Eines der besten Beispiele für hohe Abstraktion ist die Mathematik. Sie bildet mit wenigen Symbolen und Regeln Beziehungen und Relationen aller Art ab. Die hier besprochenen Systemwissenschaften machen das mit den Phänomenen, die das Funktionieren, die Effektivität, Effizienz, Ökonomie und Entwicklung von Systemen bestimmen. Beide dienen dem Überblick über komplexe Zusammenhänge und ihrer präzisen Organisation. Sie sind nicht von ungefähr die Basis aller intelligenten und digitalen Lösungen. Gegenüber dieserart abstrakter Lehren arrogant den Kopf zu schütteln, ist zwar noch weit verbreitet, aber schon lange alles andere als cool. Wer mit der Evolution mitkommen möchte, muss da durch, aber nicht unbedingt gleich Mathematiker werden.

Klare Urteile – klare Lösungen

So wie man auch in der Physik und Chemie auf Formeln zurückgreift, um materielle Wirkgefüge zu verstehen, nutzt man in den Systemwissenschaften Vergleichbares für informationsabhängige Vorgänge. Hier handelt es sich um Design- oder Funktionsprinzipien, früher sprach man von kybernetischen Gesetzen. Wer diese Prinzipien kennt und richtig interpretiert, kommt so rasch zu einem treffenden Urteil wie ein guter Arzt mit seinen Untersuchungsbefunden zur richtigen Diagnose. In einer zutreffenden Diagnose liegt nicht nur mehr als die halbe Lösung, sondern auch das allerhöchste Kostensenkungspotenzial. Sie verhindert, dass in komplexen Angelegenheiten Probleme behandelt werden, die reine Hirngespinste sind und de facto gar nicht existieren.

Abstrahieren und generalisieren

Angenommen, jemand erwähnt über unseren Bundeskanzler, dieser sei undurchschaubar. Kenner der System Sciences würde das nicht beschäftigen. Jedes komplexe System, ergo jeder Mensch ist undurchschaubar. Weshalb sollte man das über Christian Kern extra erwähnen? Es würde sie auch nicht jucken, würde man von ihm behaupten, sein Verhalten wäre nicht vorhersehbar. Auch das ist eine generelle Eigenschaft komplexer Systeme. Ebenso kalt ließe es sie, würde sie jemand darauf hinweisen, der Bundeskanzler mache Fehler. Auch das ist für alle komplexen Systeme, die Zwecke und Ziele verfolgen, typisch. Würde jemand dem Klima und Wetter Fehler nachzusagen, hielten sie das für Unsinn. Beide gehören in eine andere System-Kategorie.

Strukturiertes Wissen

Beim Abstrahieren geht es also darum, Phänomene anhand genereller Eigenschaften zu ordnen und für solche, die nicht allgemein gültig sind, entsprechende untergeordnete Kategorien zu bilden, in welche sich wiederum Ebene für Ebene generelle Eigenschaften bestimmter Arten einordnen lassen. So entsteht eine klar modellierte Hierarchie und Architektur von Wissen, die rasche Orientierung erlauben. Genau eine solche Ordnung im Kopf zeichnet echte Profis aus. Kein Arzt etwa könnte sich alle Details seiner Patienten merken. In jedem anspruchsvollen Beruf, in dem hohe Gefahren auftreten können, arbeitet man mit realitätsgetreuen Modellen der jeweiligen Angelegenheiten, die ihre Architektur, Kategorien und relevanten Parameter abbilden.

Nur wer modelliert, exploriert und führt

Ich zum Beispiel achte in Meetings vor allem auf die relevanten kybernetischen Parameter, nicht auf Details. Vor meinem geistigen Auge laufen meine kybernetischen Modelle mit, dort markiere ich aufgetretene Abweichungen von Sollwerten. Nur Namen und interne Wordings schreibe ich mit. Gleich nach dem Meeting mache ich eine Skizze, ich könnte auch Zahlen verwenden. So bekomme ich das Nötige auf Dauer in den Kopf. Im Management kommt es längst auf jede Reaktion in der Sekunde an. Man kann meist nur mit dem agieren, was man im Kopf hat. Daten und in Notizen helfen nur, wenn genug Zeit zum Nachlesen bleibt. Vergessen Sie die beiden Formeln: Wer schreibt, bleibt. Und: Jede Schrift ein Gift. Nur wer modelliert, exploriert und führt.

Verkehrs-Meldedienste und Röntgenbilder 

In realistischen System-Modellen abstrahiert man komplexe Wirkgefüge so, dass Fehlfunktionen und Störungen markiert werden können. Und zwar so wie auf Landkarten von Verkehrs-Meldediensten Straßensperren, Staus, Baustellen, Unfälle und Umleitungen. So genügt ein Blick, um zu wissen, was Sache und möglich ist. Jeder kennt aus der Medizin Röntgenaufnahmen. Wird jemand nach einem Unfall in eine Klinik eingeliefert, interessieren akut nur sein Bewusstseinszustand sowie seine äußeren und inneren Verletzungen. Mit Röntgenaufnahmen bildet man daher keine Details wie die Frisur und Haarfarbe des Patienten ab, sondern abstrakte innere Dichteverhältnisse. Die Diagnose ergibt sich aus Dichte-Erscheinungen, die vom Gesunden abweichen.

Abstraktions- und Hierarchie-Ebenen

Je höher die Abstraktionsebene, umso mehr werden Detailinformationen vernachlässigt, um volle Übersicht über ein Ganzes zu bekommen. Das gilt auch für die Führungsebenen einer Organisation. Je höher in der Hierarchie, umso abstrakter müssen die Modelle und Parameter sein. Deshalb spielen u.a. Zahlen „ganz oben“ eine sehr große Rolle. Je niedriger die Abstraktions- bzw. Hierarchieebene, umso konkreter und detaillierter muss man die Teilprobleme eines Ganzen darstellen, betrachten und bearbeiten. Entscheidend ist, dass die jeweils erforderliche Abstraktionsebene klar erkannt und eingenommen wird. Andernfalls werden Denk-, Kommunikations- und Arbeitsprozesse unnötig mühsam, langwierig, aufwändig, teuer und wenig erfolgreich.

Mehr „System-Thinker“, mehr Probleme

Das mentale Navigieren in verschiedenen Abstraktionsebenen ist für den erfolgreichen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik das Wichtigste. Absolut unverzichtbar ist dies im Umgang mit den Aussagen der Systemwissenschaften. Sie können nur mathematisch exakt formuliert werden. Die einzig mögliche nicht-mathematische Abstraktion sind Wort-Bild-Modelle von Systemen, wie zum Beispiel ich sie entwickle und verwende. Werden systemwissenschaftliche Phänomene hingegen nur in Worten formuliert, lauert eine Reihe tückischer Fallen. Sie werden auch dann gerne übersehen, wenn die Autoren auf sie hinweisen. Deshalb gibt es zwar immer mehr „System-Thinker“, aber nicht immer mehr komplexe Probleme, die gelöst werden.

Die passenden Prämissen

Der hochabstrakte Begriff „System“ etwa spricht nur eine abgrenzbare Funktionseinheit an, mehr verrät er nicht. Begriffe wie „komplexes System“, „biologisches System“, „soziales System“, „sozio-technisches System“, „technisches System“, „offenes“ oder „geschlossenes System“ sprechen jedoch bereits über spezielle Eigenschaften aller oder bestimmter System-Kategorien, deren Beschreibungen ganze Bücher füllen. Man muss die jeweils relevanten Kategorien sowie ihre Eigenschaften kennen und als Prämisse voraussetzen. Nur so kann man jeweilige Aussagen über jeweilige Systeme korrekt interpretieren. Bevor man komplexe Probleme erfolgreich lösen kann, muss man also zuvor die Systemwissenschaften ausreichend verstehen gelernt haben.

Semantische Fallen

Es macht große Unterschiede, ob man realistische Funktions- und Struktur-Modelle von einem System vor sich hat oder nur Worte. System-Modelle unterstützen das systematische Denken. Worte mobilisieren hingegen nur wild wuchernde Phantasien. Nehmen wir folgendes Beispiel: In meinem Garten ist etwas Braunes, auf dem etwas Grünes hängt. Was ist das? Hund mit grüner Leine? Fahnenstange mit grüner Flagge? Blumentopf mit grüner Pflanze? Holzhaus mit grünen Fensterläden? Baum mit grünem Laub? Gartenbank mit grüner Decke? Wir beschreiben Beobachtungen durch unser Wissen und den damit verbundenen Wortschatz. Wissen liegt auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und bezieht sich auf unterschiedliche Kategorien.

Ein Hund ist keine Pflanze

Je allgemeiner eine Aussage gültig ist, umso abstrakter sind deren Begriffe. Je abstrakter Begriffe sein müssen, umso mehr Wissen braucht man, um sie richtig zu interpretieren. Je abstrakter ein Begriff, umso stärker ist also das realistische Vorstellungsvermögen und das Hintergrundwissen über seinen jeweiligen Kontext gefordert. Nehmen wir folgendes Beispiel, um das Braune mit dem Grünen dran abzuklären: Da ist ein biologisches System. Diese abstrakte Aussage verrät immerhin, dass es sich um etwas Lebendiges handelt. Es könnte sich etwa um einen Baum, einen Hund mit grüner Leine oder einen Blumentopf mit Asparagus handeln. Versuchen wir nun: Da ist eine Pflanze. Damit wird klar, dass es sich um keinen Hund und auch um kein anderes Tier handelt.

Eine Pflanze geht nicht Gassi

Nun haben Pflanzen und Hunde zwar die gemeinsamen Eigenschaften aller Systeme an sich, auch aller komplexen sowie aller biologischen Systeme. Wer also die Allgemeine Systemtheorie, Allgemeine Kybernetik und Biologische Kybernetik beherrscht, weiß damit schon eine ganze Menge über Lebewesen. Zum Beispiel, was Pflanzen und Tiere zum Überleben brauchen, wodurch sie funktionieren oder sterben. Beide brauchen zum Beispiel Wasser. Aber eine Pflanze kaut keine Rinderknochen, und ein Hund bekommt von Flüssigdünger Durchfall. Einem Hund fallen im Herbst auch keine Blätter ab. Eine Pflanze geht nicht Gassi. System ist nie gleich System!!! Das wird von vermeintlichen System-Denkern leider gerne übersehen und das verursacht Chaos.

Das Gemeinsame UND die Unterschiede

Es geht immer darum, das jeweils Gemeinsame UND die entscheidenden Unterschiede herauszukristallisieren. Werden wir noch konkreter, um die Pflanze, die braun mit etwas Grünen dran ist, abzuklären: Da ist ein Baum. Dieser Satz löst schon bei geringsten Sprach- und Naturkenntnissen eine ziemlich klare Vorstellung aus, obwohl wir noch immer auf ziemlich abstrakter Flughöhe unterwegs sind. Ob er genügt, hängt davon ab, was es mit dem Baum auf sich hat. Wir wissen etwa noch nichts über seine Größe und Struktur, nichts darüber, was man mit ihm anfangen kann. Da ist ein Ahornbaum, ist bereits ziemlich konkret. Aber welche Sorte? Kann man Möbel mit ihm bauen? Gibt er süßen Ahornsirup ab? Verträgt er Frost?

Das Wichtigste für das Meistern von Komplexem

Da ist ein Japan-Ahorn. Kennen Sie seine speziellen Eigenschaften? Ich musste nachlesen. Japan-Ahorn ist zwar schon ziemlich konkret. Dieser Begriff ist aber auch nur aussagekräftig, wenn man die Details kennt. Hier schließt sich der Kreis. Wenn es um Wissen und Worte über Komplexes geht, liegen die Extreme nicht linear ausgedehnt weit voneinander entfernt, sondern wie der Anfang und das Ende eines Kreises nebeneinander. Die Extreme berühren sich. Um komplexe, d.h. vielschichtig verknüpfte Zusammenhänge klar zu überblicken und ihre Funktionsweise zu verstehen, muss man ein klares Bild wirksamer Ebenen und Kategorien entwickeln. Hübsche Diagramme oder Bildchen genügen dafür nicht. Man muss Systeme so abbilden (modellieren), wie sie in der Praxis angelegt sind und funktionieren. Das ist die hilfreichste Form der Abstraktion für das Meistern von Komplexem.

Jedes Ende ist ein Anfang

Wenn Sie Ihre Probleme im Management Ihrer Umgebung lösen möchten, findet sich dafür vielleicht im Sommer am ehesten Zeit. Schreiben Sie doch einfach einmal die häufigsten Begriffe in Ihrem Arbeitsumfeld auf einzelne Post-its, ordnen Sie diese so wie sie jeweils im Zusammenhang verwendet werden und machen Sie ein gutes Foto davon. Versuchen Sie dann, diese Begriffe anhand der jeweils gültigen Abstraktionsebene und Kategorie zu ordnen, machen Sie wieder ein Foto davon. Sehen Sie sich anhand beider Fotos den Unterschied an. Wo es mühselige Probleme gibt, findet sich so gut wie immer geistiges und semantisches Chaos. Sorgen Sie in Meetings dafür, dass die jeweils passende Abstraktionsebene gefunden wird und klar ist, dass jeder Wechsel einer Ebene aufgezeigt und wo nötig sofort korrigiert wird. So bringen Sie nicht nur Ordnung in Ihren Kopf, sondern auch in die Köpfe der anderen. Denn Wissen allein genügt nie. Man muss sein Bezugssystem kennen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität? Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

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