Führung oder Nicht-Führung - Ist das die Frage?

Management im Kopf: Folge 62. InForMent: Komplexität und Führung. Über Selbstorganisation und weit verbreitete Missverständnisse.

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne "Management im Kopf" dazu Anregungen auf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.

Anfang 1980. Der Leiter einer Geburtenabteilung kam gerade von einer Fachkonferenz zurück. „Es ist vorbei“, kündigte er an, „wenn wir den Müttern nicht ab sofort erlauben, ihre Babys selbst zu pflegen, werden sie wieder zu Hause gebären. Dann können wir zusperren.“ Das war die Geburtsstunde des Rooming In. Die Babys wanderten von den Säuglingszimmern, in denen sie ihre ersten Tage nebeneinander Box für Box aufgereiht zugebracht hatten, in die Zimmer neben die Betten ihrer Mütter. Dieses neue Konzept entriss damals einer ganzen Berufsgruppe deren Führungsanspruch: den Säuglingsschwestern. Sie hatten ihren Beruf gewählt, weil sie Babys pflegen wollten. Das wurde ihnen damals von deren Müttern abgenommen. Plötzlich hatten sie vor allem unsichere Erst- und versierte Mehrfachmütter zu betreuen. Und bald auch Väter, die bei der Geburt dabei sein und ihre Babys selbst wickeln wollten. Die meisten jungen Führungskräfte haben das Licht der Welt bereits in diesem Rahmen erblickt. Und alle Führungskräfte sollten sich nicht wundern, dass sich auch für sie die Anforderungen an professionelle Führung radikal verändert haben.

Kann man komplexe Systeme überhaupt führen?

Eine ausführliche Einleitung lang und in 60 Beiträgen ging es hier im Grunde immer nur um eines: Um die aktuelle wissenschaftliche Auffassung von komplexen Systemen und deren Konsequenzen für das Management. Komplexe Systeme steuern und regulieren sich selbst. Unter dieser Prämisse kommt man nicht darum herum, zu fragen: Wenn Unternehmen, Institutionen, Menschen und viele ihrer Produktionssysteme eigendynamisch funktionieren, kann man sie dann überhaupt führen? Und wenn ja, wie muss dann das Führen von und in ihnen aussehen? Darum wird es in den nächsten Beiträgen gehen.

Teufel und Heilsbringer

Sind Führungskräfte der Teufel im Leib aller Betriebe, der von Exorzisten ausgetrieben werden muss? Oder sind sie doch unverzichtbare Organe produktiver Organisationen, die so fluent wie Organismen funktionieren sollen? Über die New and Old School of Management wird heftig polarisiert. Ich habe die obige Geschichte der Geburtshilfe gewählt, um den sinnvollen Kern der aktuellen Diskussionen über das Thema Führung herauszuschälen, der für den Verzicht und die Notwendigkeit von Führung steht. Dafür schlage ich einen Blick auf die Geschichte der Selbstorganisation vor.

Jeder in einem Unternehmen muss Manager sein

Diese Diskussion geht auf das Kybernetik-Genie Heinz von Foerster zurück. Er hielt 1983 einen Vortrag an einer von Hans Ulrich initiierten Forschungstagung in St. Gallen über die von ihm 1961 entdeckten Prinzipien der Selbstorganisation. Sie hatten in der Wissenschaft weltweit großes Aufsehen ausgelöst. Als deren Konsequenz für das Management schlug Heinz vor: Jeder in einem Unternehmen muss Manager sein. Diese kybernetischen Prinzipien haben jedoch nichts mit führungslosen Teams zu tun. Sie zeigen auf, dass aus Unordnung unter bestimmten Umständen „wie von selbst“ Ordnung entsteht. Die Rede ist von einem emergenten Phänomen, in dem sich ohne lokalisierbare Ursache durch das Zusammenspiel aller Faktoren eines Systems zunehmend höhere Ordnung, Effektivität, Intelligenz und Lebensfähigkeit entwickeln. Das ist übrigens meine Expertise.

Lass immer den führen, der die besten Informationen hat

Heinz's Anregung basiert auf einer fundamentalen systemwissenschaftlichen Einsicht aus 1948, die auf Norbert Wiener zurückgeht: Die Qualität des Funktionierens von Systemen hängt von den für die Leistungen zur Verfügung stehenden Informationen ab, und nicht, wie man bis dahin dachte, von der Beschaffenheit vorhandener Energie und Materie. Heinz brachte häufig als Beispiel: „Der Mann an der Drehbank weiß besser als Chefs in der Vorstandsetage, wie gut diese funktioniert.“ Es müsse daher in jeder Frage jeweils jene Person führen, die am besten Bescheid wisse. Dieses Prinzip ist aus meiner über vierzigjährigen praktischen Erfahrung entscheidend.

Um mein Baby kümmere ich mich selbst

Mütter kennen ihr Baby schon vor der Geburt, sie müssen es aufziehen. Sie haben und brauchen die meisten Informationen, um diese große Aufgabe gut zu erfüllen. Deshalb hat sich Rooming In nachhaltig durchgesetzt. Mit den komplexen Konzepten und Projekten des heutigen Wirtschaftslebens der privaten und öffentlichen Hand ist es vom Prinzip her dasselbe. Für deren Entwickler sind sie wie ihre Babys, die sie selbst am besten kennen und von denen sie selbst am besten wissen, was sie brauchen. Wie sich Chefs dem gegenüber verhalten, hängt von ihrem Vertrauen in ihre Entwickler ab und von ihrer Auffassung von Führung.

Knackpunkt Vertrauen

Vorgesetzte, die ihren Entwicklern vertrauen können, etwa weil sie gute Erfahrung mit deren bisherigen Ergebnissen haben, die über das Fachwissen verfügen, um die Plausibilität ihrer Konzepte selbst zu prüfen oder die sich an der hohen Reputation von Experten orientieren, kommen hier auch ohne bestimmtes Führungsmodell gut aus. Führungskräfte, denen solche Voraussetzungen für bestimmte Projekte fehlen, haben mit dem Prinzip, jeweils die Person mit der höchsten Fach- und/oder Situationskompetenz entscheiden zu lassen, immer noch eine sichere Basis unter den Füßen. Schwierigkeiten gibt es nur mit Führungskräften, die meinen, Expertisen beurteilen zu müssen oder zu können, von denen sie zu wenig verstehen.

Man greift Chirurgen nicht ins Messer

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Ärzte den Rat von Kollegen aus anderen Fachgebieten hinzuziehen und ohne Wenn und Aber umsetzen. Es gibt nur wenige Ausnahmen, bei denen dieses Prinzip nicht gilt. Es würde am OP-Tisch auch niemand dem Chirurgen ins Messer greifen, bloß weil man meint, er müsse es anders machen. In der Wirtschaft haben wir dieses Problem leider noch oft. Das ist für Betroffene so zermürbend wie für einen Haubenkoch, dem der Restaurantbesitzer im Vorbeigehen beliebige Gewürze in seine Gerichte streut. Das ist das eigentliche Problem. Es zerstört mühsam aufgebaute Entwicklungen. Es verhindert Erfolg und Innovation.

Frust

Es gibt also mancherorts berechtigten Frust. Das ist vielleicht ein guter Grund für Revolutionen gegen inkompetente Führungskräfte. Aber es kommt durchaus vor, dass Führungskräfte für so manchen Fall das beste Wissen und die wichtigsten Informationen haben. Solcher Frust ist kein guter Grund, alle Chefs und jede Art von Führung abschaffen und in jedem Fall auf demokratische Organisation umsteigen zu wollen. Mehrheitsentscheide müssen, wie die jüngere Geschichte zeigt, nicht unbedingt die besten sein. Dass es neben einer Schwarmintelligenz auch Schwarmdummheit gibt, werden kompetente Speaker heute nicht müde, zu betonen. In der Kybernetik spricht man von Negentropie und Entropie. Beide Möglichkeiten stehen immer und überall offen. Ich möchte zu größter Vorsicht einladen.

Basisdemokratie

Für die Jüngeren: Diskussionen über basisdemokratisch geführte Organisationen gab es schon öfter. Wer an dieses Konzept glaubt, den lade ich ein, sich selbstständig zu machen. Aus der Lage eines Unternehmers oder einer Eigentümergruppe heraus sieht Management plötzlich völlig anders aus als aus der Perspektive eines einzigen Jobs. Wer würde mit einem Rechner ohne Betriebssystem arbeiten wollen? Wer will mit einem Auto ohne Lenkung fahren, ob selbststeuernd oder nicht? Es gibt kein System ohne Steuerung und Regulierung. Es geht also nicht um die Frage ob Führung oder nicht. Es geht um die Frage, wie Führung in komplexen Umgebungen aussehen muss.

Fehlerintelligenz

In vielen Unternehmen, die einigermaßen erfolgreich sind, findet man die systemwissenschaftlichen Designprinzipien für intelligente Systeme zu einem Teil realisiert. Was meistens noch fehlt, aber für das Meistern von Komplexem entscheidend ist, sind jene Prinzipien, die zu einer intelligenten Fehlerpolitik und Fehlerkultur führen. Das ist das Entscheidende, um die hochkomplexen und hochdynamischen Situationen von heute mit erfreulicher Wertschöpfung und Innovationskraft zu meistern. Das Prinzip, immer denjenigen entscheiden zu lassen, der am besten Bescheid weiß, ist eines davon. Es beugt Fehlern durch fehlende Situations- und Fachkompetenz vor. Mehr steckt nicht dahinter. Aber das allein genügt für eine kluge Fehlerkultur noch nicht.

Führung oder Nicht-Führung?

Die Frage, ob es in zeitgemäßen Organisationen Führung braucht oder nicht, ist eine ideologische Diskussion. Viel weiter kommt man mit der pragmatisch ausgerichteten Frage: Wer oder was braucht Führung in welchem Fall in welcher Form? Diese Frage ist immer und überall individuell zu lösen. Es kommt auf den Systemstatus, den Zweck und das Ziel der jeweiligen Unternehmung oder Institution an, ob, was, wer und wie geführt werden muss. Das kann heute so sein und morgen anders, in einem Bereich so und in einem anderen das Gegenteil. Das verlangt Agilität in den Köpfen schon lange bevor eine ganze Organisation agil werden kann.

O-Ton auf YouTube

Ich habe in meinen jungen Jahren in ein und derselben Klinik oft beides erlebt: Geniale Emergenz, in der die tollsten Prozesse wie von selbst entstanden, und destruktive Dynamiken, in denen man gegen die Wand fuhr. Beides in denselben Strukturen, unter denselben Führungsorganen und oft auch nebeneinander zur selben Zeit. Was dahinter steckt, vermutete ich den Prinzipien der Selbstorganisation von Heinz von Foerster. Die letzten sechs Jahre seines Lebens half er mir, verlässliche universelle System-Modelle und Denkwerkzeuge zu entwickeln, welche die Vorgänge dahinter anwendergerecht abbilden. Seine Erzählung über seine Entdeckung der Prinzipien der Selbstorganisation, auf denen übrigens auch das Viable System Model von Stafford Beer aufbaut, habe ich für die Öffentlichkeit kurz vor seinem Tod in einem Film festgehalten. Dort erwähnte Heinz 2001, dass diese Prinzipien leider immer noch häufig missverstanden werden. Diesen Ausschnitt können Sie auf YouTube sehen. Für Erläuterungen stehe ich gerne zur Verfügung.

Neues Management oder Marketing?

Wir stehen vor den Ergebnissen zunehmender Komplexität und Dynamik durch die Ergebnisse angewandter Systemwissenschaften in der Digitalisierung. Je intelligenter und hilfreicher die Lösungen, umso besser sind die Prinzipien der Selbstorganisation umgesetzt. Für eine erfolgreiche Wirtschaft von heute muss man sie auch im Management von Unternehmen und Institutionen etablieren. Und das nicht radikal, sondern so systematisch und sensibel, wie man eine Organtransplantation durchführt. Der operative Austausch von Organen ist nicht so schwierig. Die Schwierigkeiten liegen in der Frage, welche Art Fremdes ein Organismus oder eine Organisation abwehrt und welche unter welchen Begleitmaßnahmen angenommen werden. So wie das Handwerk der Chirurgie an sich die kleinere Schwierigkeit ist. Die größere ist immer die, dass der Patient die Operation auch überlebt. Operation gelungen, Patient tot, lautet ein Bonmot, das in den 1980ern unter Führungskräften noch ziemlich beliebt war. Ich lege es allen ans Herz, die mit zu einfachen Heilslehren auf Folien durch die Welt und das Web ziehen, in denen mehr die Kunst des Marketings als die des Managements hervorsticht.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität? Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

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