Vom Kriege und von Wahlkämpfen

Management im Kopf: Folge 63. InForMent. Komplexität und Führung: Wenn die Lösung das Problem ist.

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne "Management im Kopf" dazu Anregungen auf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der praktischen Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.

„Ich bin umzingelt von Wahlkämpfen. Im Vorjahr die Bundespräsidentenwahl, heuer die Nationalratswahl und seit einem Jahrzehnt täglich der Wahlkampf der Akquisiteure, die mir DIE Lösung für Komplexität, Agilität oder VUCA präsentieren. Mit Paul Watzlawick gesagt: Da sind doch die Lösungen das Problem! Hört das nie auf? Ich hoffe auf einen humorvollen Beitrag, damit mir das Lachen nicht vergeht. Mit freundlichen Grüßen…“ Danke für diesen anregenden Leserbrief. Ja, da hilft nur noch Humor. Mal sehen, was ich noch zusammenkratzen kann.

Zu viele Zeichen

Da gab es einen Herrn. Sein Name: Carl von Clausewitz. Der adelige Preuße hatte noch weitere Vornamen. Aber die Redaktion wünscht möglichst kurze Sätze und Texte. Hätte ich nun gleich seinen vollen Namen geschrieben, nämlich Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, hätte ich für diese Botschaft nur 45 Zeichen gebraucht anstatt ganze 285. So schnell ist eine Lösung das Problem. In diesem Beispiel geht es nur um 240 vergeudete Textzeichen. In anderen Fällen geht es um 240 unnötig vergeudete Euro, Dollar, Yen, usw. Ich könnte das jetzt fortsetzen mit 240 Tausend, Millionen, Milliarden, Billionen, das hört nie auf.

Der Nebel des Krieges

Clausewitz lebte von 1780 bis 1831. Der Generalmajor war ein großer Stratege und Militärwissenschaftler, er ist berühmt durch sein Hauptwerk „Vom Kriege“. Dort steht bereits vieles, was in Sachen „Komplexität“ für das Problemlösen, Managen und Führen entscheidend ist: Führende im Militär müssen unter hohem Zeitdruck mit unvollständigen Informationen entscheiden, zumal 75 Prozent aller Faktoren von Kriegshandlungen durch einen „Nebel des Krieges“ verhüllt oder verfälscht werden. Schon Clausewitz hielt deshalb nichts von exakter Planung im Voraus. Es seien zu viele nicht kalkulierbare Faktoren, die jeden Plan in kürzester Zeit zunichte machen würden.

Zwecke, Ziele, Mittel

Aber kann man denn die Wirtschaft und öffentliche Hand mit Kriegen vergleichen? Keinesfalls in jeder Hinsicht. Aber in folgender kann man sich wahrlich auf Clausewitz stützen: Schon er beurteilte Konflikte anhand von Zwecken, Zielen und Mitteln. Um komplexe Situationen überhaupt sinnvoll einschätzen zu können, gelten in der später entstandenen Kybernetik diese drei Parameter als fundamental. Im politischen Wahlkampf wäre die Frage nach dem Zweck: Was soll durch die Politik(er) für die Bürger besser werden? Die Frage nach dem Ziel wäre: Was müssen Politiker gewinnen, um die Situationen der Bürger verbessern zu können? Die Frage nach den Mitteln wäre: Welche Ressourcen verwenden und brauchen die Politiker? Welche haben sie? Was taugen sie? Welche fehlen?

Der Nebel der Konkurrenz

In der Privatwirtschaft und öffentlichen Hand sind die Zwecke und Ziele meist unterschiedliche wenn nicht widersprüchliche Interessen und Begehrlichkeiten. Entsteht aufgrund schlechter oder fehlender Mittel keine kluge Kooperation, entstehen Konkurrenzkämpfe. Nun sind die Dinge schon von Natur aus hochkomplex, man kann sie daher nicht durchschauen. Drum wird einfach spekuliert, irgendetwas erfunden, einfach behauptet. Über den Gegner am besten etwas Schlechtes. Die Nebelbomben in den Konkurrenzkämpfen erhöhen die Komplexität der Situationen, die Lügen den Informationsmangel. Deshalb landete Herrn von Clausewitz‘s Strategie- und Führungslehre alsbald in den Wissenschaften für Politik, Wirtschaft und Management.

Welcome Back VUCA

Mit den Titeln wissenschaftlicher Arbeiten ist es nun so, dass diese immer nach Arbeit oder gar Problemen klingen, was den Fakten auch entspricht. In der Beraterszene greift man hingegen auf Titel zurück, die „sexy“ klingen, weil die NLP und Werbepsychologie das irgendwann so empfohlen haben: Motivation, Resilienz, Agility usw. Quasi wie Zwitter der beiden kennen wir auch Akronyme als Titel wie TQM oder SCRUM. Sie klingen vor allem nach etwas Neuem. Als VUCA kamen die von Clausewitz skizzierten Charakteristika von Kriegs- und Kampfsituationen über einen Umweg von einem College der US Army über amerikanische Managementliteratur wieder zu uns zurück: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity, oder zu gut deutsch: Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit.

Alte Preußen sind nicht sexy

Ich vermute, es hat mit Marylin Monroe zu tun, dass bei uns alles was aus den USA kommt, automatisch mehr Sex hat als ein cooler alter Preuße. Es könnte aber auch daran liegen, dass radikale Simplifizierungen nicht nur in den USA, sondern auch bei uns heiß begehrt sind. Seit uns die Systemwissenschaften zur Verfügung stehen, kennen wir die Eigenschaften komplexer Systeme weitaus besser als Clausewitz sie mit damaligen Mitteln beschreiben konnte. Darüber hinaus nicht nur die Probleme, die sie mit sich bringen, sondern vor allem auch ihre Vorteile wie höhere Ordnung, Fähigkeiten, Leistungen, Intelligenz, etc. Aber VUCA klingt einfach besser. Was macht es schon, wenn volatility, uncertainty, ambiguity im selben Atemzug mit complexity genannt werden, obwohl dies nur untergeordnete Eigenschaften von complexity sind? Wo die Abstraktionsebenen durcheinander geraten, gerät die Ordnung durcheinander. Und was schrieb schon Clausewitz? „Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.“

Wer geht mit Managementlehren ins Bett?

Während ich in den 1980ern an den Wiener Uni-Kliniken als für die Pflege verantwortliche Leitung die erste Aidsstation in Österreich mitaufgebaut habe, habe ich alles über sexuelle Neigungen erfahren, was ich bis dahin nicht wusste. Dass jemand mit Führungs- bzw. Managementlösungen Sex sucht, ist mir aber bis heute nicht untergekommen. Vielleicht sollte man es dringend überdenken, in Sachen Wissensvermittlung und -anwendung auf den „Sex-Sells-Mythos“ zu bauen. Denn etwas zu verkaufen ist das eine, zufriedene schlauer gewordene Kunden sind aber das andere. Führungs- bzw. Managementlösungen müssen nicht sexy sein, sondern verlässlich funktionieren. Da hilft keine Manipulation sondern Education. Apropos: Wer geht mit wissenschaftlichen Managementlehren ins Bett? Nur die Besten kämpfen sich durch dicke Schmöker in kleiner Schrift mit vielen Fußnoten.

Wie aus Lehren Leeren werden

Mit Management- bzw. Führungslösungen ist es wie mit Autos. Das eine ist das Fahrwerk, das andere die Karosserie. Manche Fahrwerke sind traumhaft gut, andere leistungsschwach, wenn nicht gefährlich. Manche Karosserien sind wunderschön, andere hässlich, verbeult oder verrostet. Managementlehren, auf die man sich auch in einer hochkomplex-dynamischen Welt verlassen kann, sind wie Super-Fahrwerke mit einer nicht so tollen Karosserie. Nun kann man diesen Karosserien aber ein tolles Design verpassen. Das geht aber an die Grenzen sprachlicher, visueller, energetischer und finanzieller Möglichkeiten. Das Ergebnis sieht dann zwar ganz klar, einfach und selbstverständlich aus. Aber dann glaubt jeder, alles verstanden zu haben und ohnehin zu wissen. Damit macht man kein gutes Geschäft. Weit mehr Geschäft macht man, wenn man unter eine attraktive Karosserie eine Attrappe baut, die nur wie ein Fahrwerk aussieht. Das verursacht nur geringe Produktionskosten, und weil es gut aussieht, wird viel dafür bezahlt. Das bringt hohe Gewinne.

Die Erzählungen vom Silicon Valley

Trotzdem basiert die neue Wirtschaft mehr denn je auf den Ergebnissen aus der Wissenschaft. Im politischen Wahlkampf werden wir noch oft von Silicon Valleys in möglichst jedem Landesbezirk hören. Aber was lehren uns Apple, Google, Amazon, Facebook und Co? Dass wir in Firmen Spielecken wie in Kindergärten einrichten müssen, damit die Mitarbeiter nicht nach Hause wollen? Verrät man in Silicon Valley, dass die dort genutzten systemwissenschaftlichen Grundlagen zu einem ziemlich beachtlichen Teil ursprünglich aus Europa, insbesondere dem D-A-CH-Raum stammen? Erzählt man dort, dass die ersten Keime der System Sciences im Kontext des Wiener Kreises entstanden? Den besten Köpfen, die vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis fliehen konnten, bot man in den USA Rahmenbedingungen für die beste Forschung und Wissenschaft, weil die amerikanische damals so gut wie auf dem Boden lag. Klärt man uns in Kalifornien darüber auf, dass sich nach dem II. Weltkrieg das größte Netz von Systemwissenschaftlern in Europa entwickelt hat, denen man in Silicon Valley und Asien seit jeher Türen und Tore öffnet, während man sie bei uns geflissentlich ignoriert? Oder nimmt man in Silicon Valley an, dass wir das hier bei uns ohnehin besser wissen müssen als sie?

Steve Jobs? Bill Gates? Mark Zuckerberg?

Zu den wichtigsten Mitbegründern der heutigen Systemwissenschaften gehören die Österreicher Ludwig von Bertalanffy, Heinz von Foerster, John von Neumann, Oskar Morgenstern, Kurt Gödel und Paul Felix Lazarsfeld; im Kontext der Kommunikationswissenschaften nicht zu vergessen Paul Watzlawick; die Deutschen Hermann Haken, Gotthard Günther und Niklas Luhmann. Die Pioniere der modernen Managementlehre mit den Schweizern Hans Ulrich, Walter Krieg, Peter Gomez und Gilbert Probst und den Österreichern Peter F. Drucker, Fredmund Malik und Markus Schwaninger. Leider konnten nur die Schweizer im eigenen Land Großes bewegen, ihnen blieb die Selbstzerstörung durch den Nationalsozialismus erspart. Der deutschsprachige Kulturraum hat das Mindset der Systemwissenschaften stark geprägt. Der gute alte Clausewitz war daran nicht unschuldig.

Wenn die Lösung das Problem ist

Man kann Probleme oder Lösungen so betrachten, als wären sie etwas von sich Unabhängiges, Außenstehendes. Dann haben sie, außer dass man sie wahrnimmt, nichts mit einem selbst zu tun. Dann ist man auch nicht verantwortlich für das, was man wahrnimmt. So lassen sich aus großen Lehren ohne große Mühe gähnende Leeren machen. Man kann aber auch davon ausgehen, dass man als Beobachter immer in seinen Beobachtungen enthalten ist. Wie kein anderer hat Paul Watzlawick erklärt, wie sich unser Gehirn und Denken die Wirklichkeiten zusammenbrauen. Unter dieser Prämisse ist das, was man erkennt, nicht das, was sich vor einem befindet, sondern das, was in einem selbst vor sich geht. U.a. deshalb spreche ich selbst nicht von Management sondern von Informent. In logischer Konsequenz dieser Voraussetzung sagt das, was Hans über X sagt, mehr über Hans als über X. Hans ist dann auch verantwortlich für das, was er wahrnimmt und versteht. Das wäre der zeitgemäße systemwissenschaftliche Ansatz.

Selbstbezüglichkeit

Ob Krieg, Konkurrenz- oder Wahlkampf: Hier geht es immer um das Problem der Selbstreferenzialität oder Selbstbezüglichkeit. In diesen Fällen erzeugen die Ereignisse und Zustände eines Systems ihre eigenen Ereignisse und Zustände. Das ist zum Beispiel beim Denken der Fall. Das eigene Denken erzeugt den nächsten eigenen Gedanken und der wieder den nächsten, usw. Wenn man nichts dazu lernt, kann sich das eigene Wissen und Denken nicht verändern. Es ist dann wie mit einem großen Stück Kreide. Man kann es in viele kleine Stücke brechen, es bleibt dasselbe: Kreide. Es verändert sich nichts.  Es entstehen nur kleinere Teile, aber kein anderes besseres größeres Ganzes. Heinz von Foerster spricht hier von stabilen Eigenwerten und kognitiver Kontinuität.

Wenn das Problem die Lösung ist

Wenn man eine wirtschaftliche und produktive Situation tatsächlich verbessern möchte, muss man die ganze Geschichte umdrehen und das vermeintliche Problem der Komplexität zur Lösung machen. Das wäre die echte systemwissenschaftliche Strategie. Man erhöht die Komplexität, das heißt die Vielfalt an Fähigkeiten, Verhaltensmöglichkeiten oder anders gesagt die Intelligenz. Dann nehmen die Ordnung zu, die Erkenntnis, die Innovation, die Agilität, Lebensfähigkeit, Lebensqualität, usw. Das haben die USA damals gemacht, indem sie die von den Nazis verfolgte Wissenschaftsexzellenz soweit es möglich war nach Amerika geholt haben. Silicon Valley zeigt uns heute, was die USA davon haben. Stellt man sich nun vor, was unter dem Verzicht auf die für Amerika typische unbedachte Simplifizierung möglich wäre: Welche Chancen hätten wir hierzulande?

Eine Wahl- und Entscheidungshilfe

Man wird uns in den nächsten Wochen viele Wahl- und Entscheidungshilfen bieten. Ich möchte Ihnen auch eine mitgeben, eine Maxime von Heinz von Foerster: Entscheide dein Verhalten stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vermehren kann. Damit meinte Heinz nicht nur die eigenen Möglichkeiten, sondern die Möglichkeiten in und für Beziehungen und Systeme, die Möglichkeiten für beide bzw. alle Seiten. Auch das wird, wegen der Selbstbezüglichkeit, oft missverstanden. Das verlangt mit Clausewitz – puuh! Das ist im Original ein Satz, den heute viele nicht mehr lesen würden, weil er ziemlich schwierig aufgebaut ist. Manchmal hilft es, nicht an Zeichen zu sparen. Ich bringe das Zitat fast wörtlich, aber als einfacheren Satzbau: Das verlangt mit Clausewitz „…ein starkes Gemüt. Nicht ein solches, welches bloß starker Regungen fähig ist. Sondern ein Gemüt, das auch bei den stärksten Gefühlen im Gleichgewicht bleibt. Ein Gemüt, das in der Suche nach Einsicht und Überzeugung trotz der Stürme in der Brust zu einem Gedankenspiel fähig ist, das so fein und sensibel ist wie die Nadel des Kompasses auf dem sturmbewegten Schiff." Was soll man da noch sagen? Wir haben Wahlen. Sie können wählen.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

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