Wie führt man komplexe Systeme?

Management im Kopf: Folge 66. InForMent. Komplexität und Führung: Das Entscheidende über Kommunikation, Information und Organisation

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne MANAGEMENT IM KOPF dazu Anregungenauf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der praktischen Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.

Woraus und wie entsteht die Gegenwart? Bei allen Möglichkeiten, die es gäbe: Warum ist sie ausgerechnet so wie sie ist? Wie entsteht aus einer Realität die nächste? Das sind die entscheidenden Fragen für das Führen und für das Digitalisieren von Geschäftsprozessen. Am erfolgreichsten löst man sie mit validen systemwissenschaftlichen Grundlagen. In diesem Beitrag fasse ich ihre spektakulärsten Erkenntnisse zusammen. Sie haben die digitale Welt hervorgebracht, durch sie verschwinden die meisten der heutigen Führungsprobleme. 

Die Gene der Digitalen Ära

Beginnen wir wissenschaftshistorisch mit einer Vergangenheit. Sie wirkt in vieler Hinsicht noch nicht in der Gegenwart, kann daher die Zukunft noch nicht prägen. In den 1940er-Jahren forschten zwei amerikanische Wissenschaftler für einen Telekom-Konzern nach Lösungen für einen verlustfreien Nachrichtentransfer: Claude E. Shannon und Norbert Wiener. Diese Zeit war die Geburtsstunde der Informationstheorie und Kommunikationstheorie. Auf ihrer Basis entwickelte Norbert Wiener die Wissenschaft über das Funktionieren komplexer Systeme, die Zwecke und Ziele verfolgen und über ihre (Selbst)Steuerung und (Selbst)Regulierung durch Information und Kommunikation – die Kybernetik.

Kommunikation funktioniert nicht von selbst

Was Shannon und Wiener damals herausfanden, führte sozusagen zum Tod des Nürnberger Trichters. Aber nur in der Wissenschaft. In der breiteren Gesellschaft lebt er bis heute mancherorts fröhlich weiter. Shannon und Wiener wiesen damals nach, dass die Vorstellung falsch ist, man könne im Normalfall Signale von A zu B schicken, B könne sie wie beabsichtigt verarbeiten und allenfalls eine Botschaft an A zurückschicken, die A wie beabsichtigt verarbeitet, und wenn nicht, lägen irgendwelche Fehler vor. Sie zeigten damals auf, dass es genau umgekehrt ist: Es gibt in der Natur kommunizierender Wesen und Dinge keinerlei Vorrichtungen für ein Gelingen von Kommunikation. Alles ist so angelegt, dass sie ohne bestimmte Voraussetzungen misslingen muss. Gescheiterte Kommunikation ist also als der Normalfall zu betrachten.

Wie man potenzielle Erfolge begräbt

Allein wo bis heute nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters kommuniziert wird, wird daher bereits das Grab für potenziell mögliche Erfolge geschaufelt. Denn dort wird man sich zu wenig um die nötigen Voraussetzungen für erfolgreiche Kommunikation kümmern. Dort achtet man nicht darauf, dass alle eine gemeinsame Sprache und klar definierte Begriffe beherrschen, um Botschaften verständlich und klar kodieren, sinngemäß dekodieren und interpretieren zu können, um potentiellen Missverständnissen vorzubeugen und tatsächliche rasch zu erkennen und beheben. Dort sorgt man nicht für ausreichend gemeinsames Wissen, um das Nötige rasch richtig verstehen bzw. lernen zu können. Dort fehlen die erforderlichen Rahmenbedingungen für die nötige Aufmerksamkeit, um mündliche oder schriftliche Botschaften vollständig wahrnehmen zu können. Dort fehlen die nötige Zeit und Konzentration, um sie wie erforderlich geistig zu verarbeiten. Dort fehlen auch ausreichend störungsfreie Kanäle, etwa eine ruhige Umgebung, in der auch Unterbrechungen weitmöglich unterbunden werden. Dort fehlt vor allem auch das tatsachen-, hirn- und empfängergerechte Gestalten von Signalen und Botschaften.

Führen ist InFormation

Bis heute unwiderlegt zeigte Norbert Wiener damals auch die Voraussetzungen für jede Art von Funktionieren und Gelingen auf, also für Effektivität, Effizienz, Produktivität, Lebensfähigkeit, usw. All dies ist abhängig vom Ausmaß und der Qualität der Informationen, die zur Wirkung kommen (systemisches Weltbild). Bis dahin hielt man die Beschaffenheit der Energie und Materie für die wichtigsten Orientierungsgrößen – also die Physik der Wesen und Dinge (materialistisches Weltbild). Im Wort Information steckt bereits, dass es darum geht, etwas in eine bestimmte Form zu bringen, zu gestalten, zu verändern. Die Qualität (der Informationswert) einer Information ergibt sich daraus, ob bzw. wie weit sie dazu beigetragen hat, einen bestimmten Zweck zu erfüllen bzw. ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Konsequenz für jede Art von Führungsarbeit daraus ist, sich auf das professionelle Gestalten von Signalen, Botschaften und der Kommunikation zu konzentrieren.

InFormation = Ordnung

Die beiden Forscher zogen eine weitere Konsequenz aus ihren Erkenntnissen. Es gelang ihnen, die Informationslage eines Systems als Maß für dessen Ordnungsgrad einzusetzen. Also dafür, zu beurteilen, ob und wie gut in einem System Kommunikation und alles andere gelingen kann: Je mehr relevante Informationen für das Erfüllen von Zwecken und Erreichen von Zielen in einem System zur Verfügung stehen, umso höher ist der Ordnungs- bzw. Organisationsgrad, umso besser und leichter wird es in einem System, zu steuern, zu regulieren, zu managen, zu führen. Wo steht Ihr Arbeitsbereich? Das erkennen Sie anhand einer ganz einfachen Frage: Wie viele aller Signale in Ihrem Bereich führen umgehend zu Erkenntnissen, die zu einem raschen erfolgreichen Lösen von Aufgaben bzw. Problemen führen?

Ordnung = Wirtschaftlichkeit

Abgesetzte Botschaften, betonte Wiener, können zwar auf dem Weg zu ihren Empfängern ihren Sinn verlieren. Aber sie können nicht von selbst wieder verständlich werden. Es kann nur versucht werden, den Sinn durch weitere Botschaften wiederherzustellen. Jedes Nicht-Verstehen und Missverständnis führt daher zu Mehraufwand und Mehrkosten. Besonders die künftige wirtschaftliche Lage lässt sich daher anhand der aktuellen Informationslage gut einschätzen. Zeigen alle Signale die gewünschte Wirkung, vergeudet man keinen Cent. Ist das nicht der Fall, muss man nur die Kosten für jene Zeit ausrechnen, in der durch Kommunikation und Denken keine erforderlichen Erkenntnisse entstehen. Dann weiß man, wie viel Geld un- oder gar kontraproduktiv wegfließt. Häufig ist das ein Vermögen.

Wodurch Kosten explodieren

Herrschender Informationsmangel kann sich nicht von selbst korrigieren. Aber er verstärkt sich von selbst. Jeder ungelöste Mangel an relevanter Information steigert diesen Mangel und damit die Unordnung, das Chaos, die Kosten von selbst. Dieses Phänomen nennt man, mit Bezug auf die Thermodynamik, Entropie.  Professionelles Führen verlangt daher in logisch zwingender Konsequenz ein realistisches Erklärungsmodell dafür, wie Menschen erkennen und Erkenntnis gewinnen können. Die hilfreichsten Erkenntnistheorien bauen auf der Funktionsweise von Nervensystemen auf.

Führung – reine Nervensache

Nerven bekommen von draußen keine Information, es gibt keinen Nürnberger Trichter. Sie werden „von draußen“ bestenfalls aktiviert. Sind sie aktiv, feuern sie nur – quasi(!) – das bereits in ihnen eingebaute Wissen und Können an das und im Gehirn weiter. Das allerdings nur, sofern Signale einen ausreichend deutlichen Unterschied zu den bisherigen darstellen. Gleichbleibende bzw. zu ähnliche Signale werden von Nervenzellen ignoriert. Was immer Menschen erkennen, wird also nur(!) vom Innenleben und „Wissen“ ihres Nervensystems erzeugt, und zwar abhängig von ihrer Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Aufmerksamkeit und Bildung.

Das Gesetz der Lebensfähigkeit

Um erfolgreich zu sein, müssen Menschen, Teams, digitale Systeme, Bereiche, Unternehmen, etc., also fähig sein, rechtzeitig relevante Informationen/Erkenntnisse über ihre Umgebung selbst zu generieren. Sie müssen also die relevanten Signale aus ihrer Umwelt herausfiltern, erfolgreich dekodieren und interpretieren können, um sich an aktuelle Situationen erfolgreich anzupassen. Je volatiler ihre Umgebung, umso besser und schneller müssen sie das können. Sie müssen also ausreichend lernfähig sein, um auf Veränderungen adäquat reagieren und sich rasch weiterentwickeln können, ohne ihre Identität dadurch zu verlieren. So lautet das kybernetische Gesetz der Lebensfähigkeit. Führungsarbeit ist in logischer Konsequenz das Schaffen von Rahmenbedingungen für ein rasches wechselseitiges Lehren und Lernen des Richtigen, d.h. des auf das Realisieren von Zwecken und Zielen gerichteten. Damit ist es aber noch nicht getan.

Selbststeuerung und Selbstregulierung

Die spektakulärste Entdeckung von Shannon/Wiener war, dass sich komplexe Systeme aller Art selbst steuern und selbst regulieren. Komplexe Systeme funktionieren durch eigendynamische oder instrinsische Antriebe. Von außen können sie daher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen mit ganz bestimmten Strategien zweck- und zielgerichtet beeinflusst werden. Lehren und Lernen allein genügt für den Erfolg daher nicht. Es kommt auch darauf an, wie und was gelehrt und gelernt wird. Nachdem sich zeigte, dass Systeme zwar offen sind für den Austausch von Energie und Materie, aber verschlossen für den Austausch von Information, lag die Frage nahe: Wenn es nicht die Impulse von außen sind, wodurch werden Systeme dann tatsächlich gesteuert und reguliert?

Was macht erfolgreich?

Der Erfolg von komplexen Systemen – Menschen, Teams, Bereichen, digitalen Systemen, usw. – entsteht durch eine ganz bestimmte Form der Organisation für eine ganz bestimmte Form der Kommunikation. Sie ist aus sauber organisierten Rückkoppelungen aufgebaut. Diese Art von Organisation erlaubt es, auf schnellstem Weg relevante Information zu gewinnen, und zwar: über nötige Beiträge sowie über die erzielten Wirkungen von Beiträgen für das Verwirklichen von Zwecken und Zielen, für nötige Korrekturen oder die Verstärkung von Beiträgen sowie für den balancierenden Ausgleich von Beiträgen, d.h. ein Geben und Nehmen ohne Ausbeutung. Es ist eine Organisation des Zusammenhelfens einzelner Subsysteme bzw. Elemente. Das ist mehr als eine Organisation des Zusammenarbeitens.

Was bringt das?

Die unangenehmen Seiten komplexer Verhältnisse – Ungewissheit, Undurchschaubarkeit, Instabilität und Volatilität, usw., – werden in dem Augenblick verschwinden, in dem man das verlässliche Wissen über komplexe Systeme in jeder Hinsicht konsequent anwendet. Nicht nur das. Es werden die angenehmen Seiten hervortreten. Man erkennt sie daran, dass die Intelligenz in den Systemen und der Systeme von selbst wächst. Von digitalen Lösungen mit hoch entwickelter künstlicher Intelligenz kennt man das schon. Es ist auch für die Fragen der Unternehmens- und Menschenführung keine Utopie. In so manchem Bereich ist sie längst Realität. Dem Erfolg steht also nichts im Wege. Außer Menschen, die denken, dass Führen durch das Versenden von Signalen funktioniert…


Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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