Helfen Führungstipps?

Management im Kopf: Folge 67. InForMent. Komplexität und Führung: Die besten Ratgeber sind die Systeme, die man führt.

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne MANAGEMENT IM KOPF dazu Anregungenauf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der praktischen Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.

Wie man führen soll, darüber finden sich unüberschaubar viele Rezepturen. Sofern ich es richtig überblicke, gibt es nur für gesunde Ernährung ähnlich viele. Braucht man sie? Helfen sie? Darum geht es in diesem Beitrag.

Worum geht es?

Ob Führung oder Ernährung, in beiden Fällen geht es im Prinzip um diese Frage: Welche Inputs in komplexe Systeme führen zu den gewünschten Outputs? Menschen bzw. Organisationseinheiten gehören zu den komplexen Systemen. Sie steuern und regulieren sich selbst. Ihr Verhalten entsteht nur aus ihren inneren Zuständen heraus. Man kann daher unmöglich die passenden Inputs im Vorhinein wissen und in irgendwelchen Büchern, Seminaren, Kursen, etc., empfehlen. Welche Art von Führung wie gut funktioniert, hängt davon ab, welche Person man in welcher Verfassung bzw. welche Einheit man in welchem Zustand führt.

Warum Führungstheorien so schwach sind

In welcher Art und Weise sich Menschen oder Organisationseinheiten jeweils selbst steuern und regulieren, verändert sich ununterbrochen. Mit jedem inneren und äußeren Impuls, den sie verarbeiten. Mit allem, was sie beobachten, erfahren, essen, trinken, einatmen, usw. Das macht Führungstheorien so schwach. Weil sie so schwach sind, gibt es so viele verschiedene. Man versucht, andere und bessere zu finden. Man könnte sich stattdessen fragen, wie man komplexe Systeme am ehesten zweck- und zielgerichtet beeinflussen kann. Dann wird man keine Führungslehre finden, sondern bewährte Erkenntnisse aus den Systemwissenschaften.

Die Sprache von Systemen nutzen

Die einzigen verlässlichen Hinweise für erfolgreiches Führen kommen von den Systemen selbst. Alle Systeme senden immer Signale, die verraten, was sie brauchen, um produktive Beiträge leisten zu können. Diese Signale erfährt man aber nicht, indem man die Menschen einfach fragt, wie sie gerne geführt werden möchten. Größere Einheiten wie Teams, Abteilungen, ganze Bereiche, Unternehmen oder Konzerne kann man zwar fragen, aber sie können von Natur aus keine Auskunft dazu geben. Um die Führungshinweise von Systemen überhaupt registrieren, richtig deuten und ihre jeweilige Bedeutung für die Situation erkennen und nutzen zu können, muss man quasi die „Signalsprache“ von Systemen beherrschen.

Wie Systeme das Führen lehren

Unter der Signalsprache von Systemen stellt man sich am besten so etwas Ähnliches wie die Merkmale für Gesundheit und Symptome von Krankheiten vor. Wir kennen zwar nicht so viele wie in der Medizin, aber wir kennen genug, um die besten Lösungen für Führungsfragen ohne Umwege zu finden. Diese Signale geben verlässliche Hinweise über den Systemzustand und über die Art und Weise, wie Menschen oder Organisationseinheiten reagieren können und wie nicht. So erfährt man, ob sie kooperieren wollen, können oder zwar wollen, aber beim besten Willen nicht können, weil ihnen etwas fehlt oder von etwas zu viel da ist. Davon lassen sich die wirksamsten Führungsimpulse ableiten.

Wie man erfolgreiche Führung entwickelt

Auch Menschen verändern sich durch jeden Impuls, den sie verarbeiten. Nur ihre inneren Vorgänge prägen ihr Wahrnehmen, Erkennen, Entscheiden, Verhalten, ihre Verfassung und ihren Stoffwechsel, der mit alldem wechselwirkt. Daher kommt es, dass etwas für A gut ist, für B aber kontraproduktiv, dass das, was bei A gestern wunderbar geklappt hat, heute bei A völlig danebengeht. Die logische Konsequenz ist, dass man das Führen von jemand oder etwas immer wieder neu erfinden muss. Dafür gibt es einen ganz einfachen Pfad. Auch das Prinzip dafür kennt man aus der Medizin: die Systemuntersuchung, die Systemdiagnose, die Prognose im Sinne der wahrscheinlichsten Entwicklung und die systemwissenschaftlichen Designprinzipien für wirksame Lösungen.

Der Nutzen von Führungstheorien

Anfänger brauchen Theorien, weil sie die Praxis noch nicht gut genug kennen. Mit diesem Beitrag will ich also keinesfalls sagen, dass es keine Führungskräfteausbildung braucht. Schon gar nicht will ich sagen, dass es mit systemwissenschaftlichen Erkenntnissen allein getan ist. Sie sind aus meiner Sicht vielmehr nur das Tüpfelchen auf dem i. Dieses Tüpfelchen macht aber aus einem Signal erst das i und nicht ein l. Das i kann man hier als informationsbasiertes Führen verstehen, wie ich es vergangene Woche skizziert habe, das l für Leadership. Leadership hilft wenig, wenn man die Systeme, die man führt, nicht begriffen hat.

Der Nutzen der Praxisorientierung

Die theoretische Führung von Führung sollte sich mit zunehmender Führungserfahrung und Weiterbildung um 180 Grad drehen. Dann sollte es die jeweilige Praxis sein, anhand derer man nach dem passenden Wissen sucht, um jeweils ein erfolgreiches Führen zu entwickeln. Das bedeutet, dass man mit zunehmendem Lerngewinn in der Lage sein muss, bei aller Auswahl an Theorien, die tatsächlich passenden Erklärungen für Situationen zu finden. Wer sich auf Dauer nur von Theorien leiten lässt, dem passiert, wovor ein chinesisches Sprichwort warnt: „Wer nur einen Hammer hat, wird in allen Problemen nur Nägel erkennen.“ Man bleibt blind für die tatsächlichen Probleme, man schuftet für das Falsche.

Die Anforderungen an Führungskräfte

Alles für das Meistern komplex-dynamischer Verhältnisse hängt von der Selbstführung der Einzelnen ab. Die Anforderungen an die Selbstführung von Führungskräften liegen entsprechend hoch, weil sie nicht nur das eigene Verhalten, sondern auch das ihrer Mitarbeiter und Führungseinheiten zu verantworten haben. Sollten sie die üblich genannten Anforderungen erfüllen, müssten sie Universalgelehrte sein. Doch die Jahrhunderte der Universalgelehrten sind vorbei. Es gibt heute zu viel Wissen, kein Einzelner kann es erfassen, verdauen und verwerten. Daher hat man in den Systemwissenschaften allgemein verlässliche Merkmale für eine realistische Lagebeurteilung und Designprinzipien für optimale Lösungen gesucht und gefunden.

Die besten Trainer

Wie lernt man Menschen und Systeme am besten verstehen? Lernen Sie von den großen Dichtern, Shakespeare, Kafka, Dostojewski, Zweig, usw. Dichter nennt man Dichter, weil wissen, wie man hyperkomplexe Verhältnisse auf das Entscheidende und Erhellende verdichtet. Besuchen Sie Lesungen, Theatervorstellungen, sehen Sie sich gute Filme an, um Menschen und komplexe Dynamiken effektiv beobachten zu lernen. Sehen Sie sich denselben Film dreimal, viermal ab. Konzentrieren Sie sich jeweils auf andere Figuren, die Ausstattung Kostüme oder Schnitte. So erkennen Sie, für wie viele Dinge man bei einer einzigen Wahrnehmung blind bleibt.

Die Gefahr von Halbwissen

„Die Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“, meinte Theodor von Adorno. Auch in der soliden Wissenschaft behauptet heute niemand mehr eine Wahrheit, sondern nur höchste Wahrscheinlichkeit. In der Kunst darf man übertreiben, um Wesentliches bewusst zu machen, in der Wissenschaft darf man das nicht. „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen“, meinte Adorno auch. Vor diesem Problem stehen Führungskräfte heute ganz besonders. Durch die hohen Grade an Komplexität und Dynamik der Systeme, mit denen wir heute zu tun haben, können winzigste Fehler und Irrtümer große Probleme, wenn nicht Katastrophen auslösen.

Von der Macht und Ohnmacht

"Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.“ Ich plädiere dafür, diese Warnung Adornos ernst zu nehmen. Ein kleiner Führungstipp hier, ein kleiner da, macht keine gute Führungskräfte. Die besten Strategien, um ganze Sachen zu überblicken, zu verstehen und zu machen, habe ich heute beschrieben. Das Anwenden(!) valider Systemwissenschaften und das Lernen durch gut erzählte Geschichten. Wie solche Systemwissenschaften helfen, erklärt vielleicht ein Satz von Adorno über die Liebe: „Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.“ Professionelle Systemiker (er)kennen die gemeinsamen Muster unterschiedlicher Systeme, denen man mit denselben Designprinzipien begegnen kann.

Wenn Führung anstrengend ist

Führen muss nicht anstrengend sein, nicht einmal mit schwierigen Menschen oder Situationen. Anstrengend ist es nur, wenn man die Lage verkennt. Das kann man nicht mit höherem Engagement lösen. „Engagement ist vielfach nichts als Mangel an Talent oder an Anspannung, Nachlassen der Kraft.“ Ja, schon wieder Adorno. Wenn Führungssituationen anstrengend werden, verrät einem das System, dass man unpassend führt. Dann muss man die Strategie verändern, nicht den Aufwand erhöhen. Für manche wird Führung aber immer anstrengend sein, einfach, weil es nicht ihre Sache ist. Da kann man auch nur mit Adorno sagen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen...“ Dann kann man die passenden Aufgaben für sich suchen, zum Beispiel als Experte oder Entwickler. Aber Führungstipps helfen auch in diesem Fall nichts.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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