Informationsmangel - und was der mit der Wahl zu tun hat

Management im Kopf: Folge 72. InForMent. Komplexität und Führung: Das Kernproblem von Komplexität.

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne MANAGEMENT IM KOPF dazu Anregungenauf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der praktischen Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.


So rar die Leseranfragen über den Sommer waren, so viele kamen jüngst mit der Frage, was ich vom aktuellen Wahlkampf halte. Wahlkämpfe sind schöne Beispiele für Situationen, in denen komplexitätsbedingter Informationsmangel überdurchschnittlich deutlich und massiv wirksam wird. Aber auch für den Kampf um Führungspositionen und die Auswahl von Führungskräften.

Man gewinnt nie genug Information

Über komplexe Angelegenheiten gewinnt man nie genug Information. Informationsmangel ist das naturgegebene Kernproblem komplexer Verhältnisse. Er herrscht immer und überall, lässt sich nie vollständig auflösen. In diesem Fall wissen die Politiker zu wenig über die Wähler, die Wähler zu wenig über die Politiker usw. Man kann nur versuchen, wenigstens jene Informationen zu gewinnen, die für Entscheidungen relevant sind, über die man auch lange später noch froh ist. Dazu braucht man ein gutes und klares Modell.

Modelle

Ein solches Modell nennt man in diesem Fall Wahlprogramm. Ein klares Programm zeigt die entscheidenden Größen des Wirkgefüges Staat und wodurch er mit welchem Ergebnis gesteuert und reguliert werden soll. Ganzheitlich angelegt, beschreibt es die Strategien der Veränderungen von einem Ist- zum Sollzustand. Als Text sind das ein paar hundert Seiten. Als Grafik wäre es so groß wie Wahlplakate. Das Ganze hat nur einen Haken: Es erfordert hohe Aufmerksamkeit und Konzentration, solche Modelle zu studieren und zu begreifen.

Verdichtung und Erregung

Solche Wahlprogramme gelten daher als Minderheitenprogramme für ein paar wenige Menschen, die in der Tat Hunderte Seiten studieren, bevor sie auf dem Wahlzettel ihr Kreuzchen machen. Das Problem sind aber nicht die Wahlprogramme selbst, sondern zu viele Wähler, die die Aufmerksamkeit für deren Studium nicht aufbringen können, aus welchen Gründen auch immer. Wahlkämpfer sind also gefordert, ihre Nachrichten so zu verdichten, dass sie Aufmerksamkeit erregen und möglichst viele Wähler überzeugen.

Mir kannst du vertrauen

Wo nicht genau genug verstanden werden kann, worum es geht und was dafür wichtig ist, kann man nur noch auf Vertrauen setzen. Deshalb werden vor Wahlprogramme Spitzenkandidaten gestellt. Durch sie bekommen Wahlprogramme ein Gesicht, eine Persönlichkeit, die möglichst viel natürliche Autorität ausstrahlt. Jene Führungsspezies, bei der es sofort im ganzen Raum still wird, wenn sie eintritt und der man mit ungebrochener Aufmerksamkeit zuhört, ist dabei im absoluten Vorteil. Sie war aber schon immer rar.

Mustererkennung

Kandidaten können nun die Intuition ihrer Wähler erreichen oder nur ihre Emotion. Intuition steht für das schnelle Erkennen von Mustern auf der Basis bisher erlernter. Hier findet also eine Erkenntnis statt, die den Charakter hat von der/das ist so wie… Das läuft automatisch im limbischen System ab. Eine solche Erkenntnis kann zutreffen oder nicht, und ist weit weniger anstrengend als das langsame, rationale, logische Denken. Die Emotionen, die ein Kandidat auslöst, sind hingegen nie falsch oder richtig; sie sind einfach nur wie sie sind.

Langfristig oder temporär

Wird die Intuition von Wählern erreicht, entscheiden sie sich auf der Basis ihrer bisherigen Erfahrungen für oder gegen eine Partei/Liste. Solche Wähler stehen auch nach der Wahl viel eher hinter ihren Kandidaten, also auch dann, wenn tatsächlich politische Entscheidungen getroffen werden. Wahlentscheidungen, die nur emotional getroffen werden, sind hingegen ziemlich flüchtig. Solche Wähler fühlen sich bald einmal von ihrem Kandidaten manipuliert und enttäuscht. Rückhalt für unbequeme politische Lösungen ist von ihnen nicht zu erwarten.

Meinungslandschaften

In Wahlkämpfen werden also mehr oder weniger temporäre Meinungen über Spitzenkandidaten und ihre Parteien/Listen produziert. Diese versucht man mit Umfragen auszuloten. Da Meinungen, die auf Emotionen basieren, nicht besonders stabil bleiben, ist es kein Wunder, wenn Meinungsumfragen umso unzuverlässiger werden, je vielfältiger und dynamischer das Nachrichtenangebot über die und von den einzelnen Kandidaten wird. Der Wahlausgang bleibt daher mindestens bis zur ersten Hochrechnung unvorhersehbar.

Information oder Lärm

In der Kybernetik verwendet man eine klare Definition von Information, um trotz dichter Nachrichtengewirre zu erkennen, was Signale oder Nachrichten bewirken. Hier versteht man nicht unter jedem Signal und jeder Nachricht Information. Information sind hier nur die Erkenntnisse von Empfängern, die einen Unterschied zur ihrer bisherigen Kenntnis machen und deren Meinung bzw. Verhalten verändern: Information ist ein Unterschied, der eine Veränderung herbeiführt. Alles andere gilt hier nur (wie bei den Wählern) als Rauschen oder Lärm.

Realitätsverlust & Chaos

Herrschender Informationsmangel, der nicht aufgelöst wird, nimmt so gut wie immer von selbst zu, und mit ihm das Chaos. Er steigt umso leichter und schneller an, je mehr Nachrichten verbreitet werden, weil die Aufnahmekapazität der Gehirne dadurch überfordert wird. Es kommt zu vielen Wahrnehmungsverzerrungen, die den Kontakt mit der Realität reduzieren und das Chaos steigern. Den Wählern als Souverän hilft das nicht gerade, souverän zu entscheiden. Das spüren die meisten, und das nervt sie. Verständlicherweise.

Negative & Dirty Campaigning

Zu den Strategien des Negative und Dirty Campaignings gibt es daher nicht viel mehr zu sagen, als dass sie den ohnehin herrschenden Informationsmangel und das Chaos durch bewusstes Lügen bewusst erhöhen und herrschendes Vertrauen durch haltlose Anschuldigungen bewusst zu zerstören versuchen. Ich schreibe bewusst, versuchen. Es ist ja nicht gerade so, dass man davon ausgehen muss, dass keiner der Wähler lernfähig ist. Vielmehr müsste man Umfragen machen, die erheben, wie viele Wähler heute noch davon beeindruckt werden.

Es geht um das Ganze

Globale Vernetzung. Alles steckt heute im selben System, hängt vom selben System ab. Daher hilft auch nur noch das, was Systeme optimiert. Das macht es den einzelnen Parteien/Listen zudem schwer, sich deutlich genug von den anderen zu unterscheiden. Wer es gut mit dem Land meint, muss zwangsläufig auf ziemlich ähnliche Ideen kommen wie alle anderen Bewerber. Diese Indifferenz trägt zusätzlich zum immanenten Informationsmangel bei. Es gibt zu wenig Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen.

Journalismus

Bleibt noch der Journalismus mit den Möglichkeiten, die ihm unter solchen Umständen bleiben: zwischen dem Herauskristallisieren der Unterschiede, die in den Angeboten der Parteien/Listen liegen, und dem Berichten aktueller Tagesereignisse im Wahlkampf. Auch hier geht es um den permanenten Kampf um Aufmerksamkeit. Auch hier wird bei den Wählern ein Nachrichten-Overload wirksam. Was dem Wähler letztlich bleibt, ist seine Menschenkenntnis. Sie hängt nicht gerade wenig davon ab, wie gut er sich selbst kennt. Bis auf ein Letztes.

Was bisher geschah

Sagen wir, es gibt Wähler und Politexperten, die einen Wahlkampf mit Schönheitswettbewerben oder Song-Contests verwechseln. Es gibt aber auch solche, die sich in einem Wahlkampf eher wie Top-Manager verstehen, die ihre zukünftigen Führungskräfte aus einer Reihe von Bewerbern wählen, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Erstere entscheiden sich für eine Liason, aus der sie bis zur nächsten Wahl nicht herauskommen. Zweite werden sich vor allem an den bisherigen Leistungen der Parteien/Listen/Kandidaten orientieren.

Leistungsnachweis

Kleine Parteien, die noch nie in Regierungen waren, können bezüglich ihrer bisherigen Leistungen nur auf ihre oppositionelle Veränderungskraft hinweisen. Kleine Parteien, die noch nie kandidiert haben, können hingegen überhaupt nur für ihre Anliegen und Interessensgruppen plädieren. Ausweis für ihre Regierungskompetenz können beide Gruppen keinen vorlegen. Das ist ein Vorteil für bisherige Regierungsparteien. Ein Nachteil ist es für sie, wenn sie mit ihrer bisherigen Regierungsarbeit nicht überzeugen konnten.

Last Minute

Noch nicht erwähnt wurden hier traditionelle Wähler, die immer dieselbe Partei/Liste wählen, unabhängig vom aktuellen Geschehen und von den aktuellen Kandidaten. Diese stabile Wählergruppe wird zunehmend kleiner. Zunehmend größer wird daher die Wahrscheinlichkeit, dass maßgebliche Ereignisse und Eindrücke auch in letzter Minute noch Einfluss auf die Wahlentscheidungen haben können. Bleibt die Frage: Was wird bei einer solchen Wahl eigentlich gewählt? Nicht mehr und nicht weniger als die Gestaltung der Zukunft.

Indikator

Wir stehen in einer neuen Ära. Wir haben noch keine klare Vorstellung davon, wie sie sich entwickeln wird. Wir haben heute nur Gestaltungsmöglichkeiten, deren Ergebnisse morgen wirksam werden. Einer der verlässlichsten Indikatoren, den ich für Wahlentscheidungen anbieten kann, ist die Frage, welches Sensorium Kandidaten/Parteien/Listen für Veränderungen und wie viel Anpassungsfähigkeit sie mitbringen. Denn es geht viel weniger um die Veränderungen, die sie selbst herbeiführen können, als um jene Veränderungen in der Welt, Wirtschaft, Gesellschaft, Medienlandschaft, usw., mit denen sie als Regierende erfolgreich umgehen können müssen.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner
Maria PrucknerMaria Pruckner

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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