Ist Menschenführung Chefsache?

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Management im Kopf: Folge 81. InForMent. Komplexität und Menschenführung: Eine Geschichte, eine Einleitung.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Geht es um das Thema Führen, wird darunter oft nur das Führen von Mitarbeitern durch deren Chefs verstanden. Das ist aber nur einer von vielen Aspekten der Unternehmensführung. Auch die Vorstellung, dass es beim Führen von Menschen allein nur um die Mitarbeiterführung geht, ist viel zu kurz gegriffen. Betrachtet man die Situation mit den Grundlagen der Kybernetik, so steuert und reguliert in Unternehmen und Institutionen jeder mit solchen Einrichtungen verbundene Mensch, also auch Kunden, Lieferanten, usw. Es hat bloß nicht jeder gleich viel Macht. Viele Menschen haben oftmals gar keine, üben aber dennoch enormen Einfluss aus. Andere haben hingegen viel Macht, bewirken aber mit dieser nicht, was sie erreichen wollen. Es lohnt sich, die Frage der Menschenführung mithilfe der Systemwissenschaften zu betrachten. Ich beginne den neuen Abschnitt zur Einführung als praktisches Beispiel mit einer wahren Geschichte aus meinem Leben, die mich früh zur intensiven Auseinandersetzung mit diesen Fragen gebracht hat.

Ein Praktikum

Es war 1977. Ich war damals sechzehn, stand in meiner Ausbildung zur Allgemeinen Krankenpflege und absolvierte gerade ein langes Praktikum. Bei einer allseits gefürchteten Stationsschwester. Ich hatte all meine Hebel in Bewegung gesetzt, um meine praktische Ausbildung bei ihr machen zu dürfen.

Eine Matrone

Die Frau, von der ich unbedingt lernen wollte, war die klassische Erscheinung einer Matrone. Sie war knapp sechzig; ihrer Gesetztheit, Würde und körperlichen Erscheinung unterwarfen sich selbst die Primarärzte des Hauses widerspruchslos. Mit ihrer Kritik hielt sie nie hinter dem Berg, sie kam aber in jedem Fall exakt fachlich begründet, sie lehrte auch ungefragt in jedem Fall. Als ich meinen ersten Dienst bei ihr antrat, saß sie auf ihrem Stuhl in einer Ecke der Teeküche. Ihr linker Unterarm stützte ihren mächtigen Kopf ab, der rechte lag entspannt auf dem Tisch. Sie sah mich mit spitzem Mund von unten bis oben an. Dann musste ich ihrem intensiven Blick in meine Augen standhalten, während sie eine gefühlte Minute wortlos und ruhig mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte. Plötzlich grinste sie über das ganze Gesicht: „Wer freiwillig bei mir arbeiten möchte, den muss ich mir zuerst einmal ganz genau ansehen.“ Damit war noch kein Bann gebrochen, aber das ließ mich zumindest einmal durchatmen.

Erste Routine

Ich war schon mehrere Wochen auf der Station meiner Wahl-Chefin und hatte es noch keine einzige Minute bereut. Sie ließ mir einerseits große Freiräume, hatte mich andererseits aber immer Auge. Täglich durfte ich Dinge machen, die ich noch nie zuvor gemacht hatte, ich lernte schnell und viel dazu. Fiebermessen – jeder, der schon mal in einem Krankenhaus lag, kennt das – gehörte von Anfang an zu meinen täglichen Aufgaben, da nahm es meine Chefin mit der Aufsicht bald nicht mehr so genau. Zweimal am Tag mit 32 Fieberthermometern durch die Station gehen, allen Patienten ein Thermometer unter den Arm stecken, danach wieder einsammeln, die Temperatur ablesen, auf den Fiebertafeln einzeichnen, sicherstellen, dass sich wieder alle 32 Thermometer im Sammelglas befanden und dies im Dienstbuch verzeichnen.

Eindeutige Hierarchie

Fehlte ein Thermometer, war dieses so lange zu suchen, bis es gefunden war. Zerbrach eines, war das Quecksilber bis auf das winzigste Kügelchen samt sämtlichen Scherben und Splittern einzusammeln und sicher zu entsorgen. Solches war nicht nur im Dienstbuch zu verzeichnen. In solchen Fällen musste man mit dem zerbrochenen Thermometer, oder noch schlimmer, wegen eines fehlenden Thermometers, den Büßergang zur Pflegedirektorin antreten. Damen in dieser Funktion sprach man damals noch mit „Frau Oberin“ an, auch wenn es eine weltliche Leiterin des gesamtes Pflegedienstes war.

Vom Büßen und vom Bitten

Der Frau Oberin hatte man sich in eindeutig erkennbarer Reue, Bußbereitschaft und untertänigster Bittstellung zu nähern: „Bitte, sehr geehrte Frau Oberin, ich habe ein Fieberthermometer zerbrochen/verloren. Es tut mir sehr leid, ich bitte Sie höflichst (besser noch: untertänigst) um einen Ersatz.“ Daraufhin hatte man zuerst eine Rüge, wenn man Glück hatte, auch nur einen herablassenden oder strengen Blick entgegenzunehmen. Erst danach schickte sich die Frau Oberin an, ein neues Thermometer aus dem Schrank zu nehmen, dessen Übergabe in ein Dienstbuch zu verzeichnen und der jeweils gefallenen Schwester zu überreichen (die ersten Pfleger gab es damals erst äußerst vereinzelt).

Gute Absicht…

Die Fieberthermometer auf der Station wurden in einem Glas aufbewahrt, das gut über die Hälfte mit einem hautverträglichen Händedesinfektionsmittel gefüllt war, um die Achseln der Patienten nicht zu reizen. Es enthielt eine hautfettende Substanz, die sich leider ziemlich unappetitlich im Glas und auf den Thermometern absetzte. Also beschloss ich eines Tages, das Glas und die Thermometer gründlich zu reinigen. Ich nahm das ganze Bündel aus dem Behälter, drehte mit meinem Faible für die Reinigungskraft von heißem Wasser nur die Heißwasserleitung auf und hielt es darunter.

Faszinierendes Desaster

Restlos schockiert und gleichzeitig uneingeschränkt fasziniert sah und hörte ich zu, wie sich – tack – tack – tack – (32-mal) eine Mess-Spitze mit dem Quecksilber nach der anderen exakt an derselben Stelle vom Rest des Thermometers trennte, mit einem – klick – klick – klick – (32-mal) im Aluspülbecken aufprallte, noch mal hochflog, um dann mit einem tick – tick – tick – (32-mal) endgültig dort zu landen. Das und der Tanz der Quecksilberkügelchen im Aluspülbecken waren akustisch und optisch so dermaßen schön, dass ich es gerne noch einmal erleben möchte. Gleichzeitig vergingen mir aber Hören und Sehen beim Anblick der kaputten Fieberthermometer in meiner Hand. Es war einer der Momente, in denen sich gegensätzliche Extreme berühren, ja überdecken. Die gibt es.

Regelbruch

Nach diesem überwältigenden Ereignis stand ich eine Weile in völliger Gedankenleere da, bevor ich mit den kaputten Thermometern in der Hand meine Stationsschwester aufsuchte. Ich hielt sie ihr in anhaltender Gedankenleere hin und fragte sie, woher immer diese Eingebung auch kam: „Wie ist das? Muss ich jetzt mit jedem einzelnen Thermometer hinauf zur Frau Oberin? Oder kann ich mit allen auf einmal gehen?“ Sie lachte laut auf: „Wie ist denn das passiert?“ Die kaputten Thermometer sahen auch wirklich gut aus. Selten sieht man etwas, das so exakt kaputt ist. Alle Quecksilberköpfchen waren an derselben Stelle abgebrochen, der Rest der Thermometer war völlig heilgeblieben. „Sie waren so verschmiert; ich wollte sie waschen, habe aber leider zu heißes Wasser erwischt...“ Meine Wahl-Chefin sah mich so an wie bei unserer ersten Begegnung. Dann sagte sie: „Nein, du (!) gehst sicher nicht zur Oberin.“ Sie nahm mir die 32 Thermometer resolut aus der Hand: „Damit gehe jetzt ich zu ihr.“ Sie verschwand durch den Park des Krankenhauses Richtung Direktion.

Ein Triumph

Wann immer ich konnte, blickte ich zum Fenster hinaus, ob und wie meine Chefin zurückkam. Nach einer halben Stunde sah ich sie festen Schrittes durch den Park herunterkommen, triumphierend, in ihrer Hand ein Bündel Thermometer. Jeder in Personalkleidung fragte sie offenbar nach dem Grund ihrer guten Laune. Für jeden hielt sie inne, um etwas zu erzählen. Jeder zog lachend weiter. Dann stand sie endlich vor mir: „Zwei Neuheiten“, kündigte sie an, „erstens, hier hast du die neuen Thermometer. Zweitens, nie wieder muss jemand wegen eines kaputten Thermometers den Büßergang antreten.“

Wie man Chefs führt

„Wie haben Sie das gemacht?!“, fragte ich perplex. „Ich habe sie gefragt: ,Frau Oberin, wie soll die Strafe für eine Schülerin aussehen, die sich aus eigenen Stücken mehr Arbeit macht, als vorgeschrieben, um etwas besser zu machen, als es üblich ist?´ Daraufhin hat sie mich gefragt, ob ich verrückt geworden bin, solche Schülerinnen bestrafen zu wollen. Erst dann habe ich ihr die kaputten Thermometer gezeigt und ihr dein Missgeschick erzählt. Sie hat auch nur gelacht, 32 Thermometer aus ihrer Schachtel herausgezählt und sie mir mit folgenden Worten übergeben: ,Du hast gewonnen, lassen wir diesen Blödsinn.´ Das werde ich nun lange genießen.“

Einfach zum Nachdenken

War es eine bestimmte Führungskraft, die endlich ein entwürdigendes Ritual aus der Welt schaffte? Oder war es diese ganze Geschichte – das Zusammenwirken vieler Faktoren, begonnen vom fetthaltigen Desinfektionsmittel im Thermometerglas über die physikalischen Wechselwirkungen von heißem Wasser, feinem Glas und Quecksilber bis zu den Reaktionen aller Involvierten? Gewiss war es die Pflegedirektorin, die die Entscheidung traf, niemanden mehr für kaputte oder fehlende Fieberthermometer zu bestrafen. Aber ausgelöst hat diese Entscheidung eine ihrer Mitarbeiterinnen – die beste Chefin, die ich je hatte. Sie hat für meine Würde, für die Würde der gesamten Belegschaft – für das oberste Menschenrecht gekämpft. Es hat sich auch noch lange später gezeigt: Es lohnt sich, die Würde der Menschen in jeder Situation zu bewahren…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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