Die Zukunft ist Vertrauenssache

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Management im Kopf: Folge 84. Komplexität und Menschenführung: Vertrauen entscheidet

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Es gehört zur guten alten Tradition, einander zu Neujahr viel Glück, alles Gute, Gesundheit und Erfolg zu wünschen. Ich breche heute diese Tradition und wünsche Ihnen, sehr geehrte Leser und Leserinnen, Vertrauen. Ich wünsche Ihnen Vertrauen, das man Ihnen entgegenbringt, ohne später enttäuscht zu werden und Vertrauen, das Sie selbst aufbringen können, ohne es später bereuen zu müssen. Denn solches Vertrauen verhindert Stress, ist gut für die Gesundheit, fördert den Erfolg; es ist der Nährboden, auf dem am ehesten Glück entsteht.

Komplexitätsbewältigung

Zu Weihnachten schrieb ich hier in Sachen Komplexitätsbewältigung über die kybernetischen Funktionen der Liebe. Denn aus Liebe heraus entwickelt sich vieles Nötige wie von selbst. Mit ihrer Steuerung der Aufmerksamkeit ist sie eine der stärksten Unterstützungen für das Meistern von Komplexem. Doch das mit der Liebe gehört zum Extremen, es ist nicht das Wichtigste, sondern nur das Schönste. Es gibt auch keine Entscheidung, keinen Appell, Trick, Knopfdruck, Click oder Wisch, mit dem man Liebe erzeugen kann. Sie taucht wie von selbst auf oder eben nicht, aber nur unter ganz bestimmten Umständen bleibt sie wie von selbst.

Von-Selbstorganisation

Genaueren Beobachtern und Kennern des Lebens ist bewusst, dass nicht nur Liebe, sondern auch Unordnung wie von selbst entsteht. Gerade um die nötige Ordnung aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen, braucht es Management und Führung. Was nur den Wenigsten bewusst ist, ist, dass auch Ordnung wie von selbst entstehen kann, und zwar sogar aus Unordnung, aus Chaos heraus. Herausgefunden hat das der legendäre Kybernetiker Heinz von Foerster. Er nannte dieses Phänomen „Selbstorganisation“. Damit meinte er ein Potenzial in komplexen Systemen, aus dem ohne bestimmbare Ursache etwas Besseres als zuvor entsteht. In meinem Film über und mit ihm erzählt er selbst darüber.

Von selbst und mit viel Aufwand

Für Silvester zum Beispiel muss es niemand antreiben, dass unzählige Feuerwerkskörper gekauft und um Mitternacht herum in die Luft gejagt werden. Es passiert wie von selbst, aus dem intrinsischen Antrieb von Menschen heraus, die Feuerwerke zu Silvester lieben. Aber haben Sie jemals erlebt, dass am Neujahrstag der Müll, der von den Feuerwerkskörpern bleibt, wie von selbst verschwindet oder wenigstens die Leute, die sie abgefeuert haben, ihn bei Tagesanbruch wie von selbst aufsammeln gehen? Es sind immer die Bürgermeister, die eine Menge organisieren und führen müssen, damit das zurückgebliebene Silvesterchaos beseitigt wird.

(Nicht) von selbst I

Meine Beziehung zu Feuerwerkskörpern rührt aus meinen Klinikzeiten her. Am tiefsten sitzt meine Erinnerung an einen 14-Jährigen, der sich seine zukünftigen Kinder mit Schweizer Knallern in seiner Hosentasche weggesprengt hat, weil er in dieser auch ein Feuerzeug trug, mit dem er gespielt hatte. Diese Explosion passierte also nicht von selbst, aber er wäre von selbst verblutet, hätte ihn niemand gerettet. Um ihn herum sahen sich Menschen trotz aller Feierlaune dafür zuständig, erste Hilfe zu leisten und den Notarzt zu rufen. Die Sache mit der Selbstorganisation ist also weniger eine Frage von Zauberei als eine günstiger Umstände.

(Nicht) von selbst II

Zum heurigen Jahreswechsel verfolgte ich Feuerwerke mit Blick auf eine Otto-Wagner-Brücke, von der aus jedes Jahr größere Feuerwerkskörper abgefeuert werden. Einer davon ging von einer Seite der Brücke in die Luft, fiel auf der anderen Seite herunter und explodierte erst direkt vor den Füßen einer Frau. Sie sackte schlagartig in sich zusammen, fing sich aber in der Hocke und verblieb so für Minuten starr. Wo man gegenüber das Ding abgefeuert hatte, musste man das gesehen haben. Doch dort gab es keine Bewegung, vielleicht auch aus Schock, vielleicht aus Feigheit, vielleicht aus Rücksichtslosigkeit. Aber ein Mann aus einer Gruppe, die auf derselben Brückenseite stand wie die geschockte Frau, lief zu ihr hin. Die Gruppe um ihn herum folgte ihm wie von selbst. Sie bildeten um die Arme einen Kreis, eine Frau zückte etwas abseits ihr Handy, und zwar nicht, um zu filmen und posten, sondern um zu telefonieren.

(Nicht) von selbst III

Selbstverständlich ging der Feuerwerkskörper ohne jede Absicht direkt vor dieser Frau los. Aber das hat nichts mit Selbstorganisation im Sinne von Heinz von Foerster zu tun, sondern damit, dass in komplexen Systemen (in diesem Fall im Zusammenspiel von Menschen, Feuerwerkskörpern und Umwelt) prinzipiell ein viel höheres Potenzial für Misslingen als für Gelingen steckt. Ein Beispiel für dieses Phänomen der Selbstorganisation ist, dass sich ein Mann in Bewegung gesetzt hat, um sich um diese Frau zu kümmern, und dass ihm weitere Menschen ohne Appell gefolgt sind, um mitzuhelfen.

Ein großer Unterschied

Passiert etwas aus eigendynamischem oder intrinsischem Antrieb (d.h. ohne dass es jemand/etwas gezielt entscheidet, anregt, befiehlt, herbeiführt oder erzwingt, also ohne eindeutige Ursache) spricht man in den Systemwissenschaften von Emergenz. Die unerfreulichen Folgen von Feuerwerken kann man dieser Emergenz zuschreiben. Heute wird für Emergenz leider auch oft der Begriff der Selbstorganisation verwendet. Mein Vorschlag ist, hier im Sinne von Heinz von Foerster zu differenzieren, weil es einen großen Unterschied macht, ob von selbst Chaos oder Ordnung entsteht.

Vertrauen geht vor Liebe

Was führt dazu, dass durch das Zusammenwirken von allen und allem in einem System wie von selbst Zustände und Ereignisse entstehen, die sich nicht mehr weiter verbessern lassen? Das ist seit 40 Jahren meine Leitfrage, 1987 habe ich Heinz von Foersters Arbeiten über die Prinzipien der Selbstorganisation entdeckt. Das Wesentlichste dazu habe ich bislang in meiner Kolumne hier zusammengefasst. Vertrauen geht vor Liebe, wäre der passende Leitsatz für das Entscheidende, denn Vertrauen kann auch herrschen, wenn nicht geliebt wird.

Das Wichtigste

Dass Komplexität eine im ganzen Leben omnipräsente Eigenschaft ist, wird immer mehr Menschen bewusst. Ebenso, dass komplexe Systeme eine Reihe unangenehmer Eigenschaften aufweisen: vor allem Undurchschaubarkeit, Nicht-Vorhersagbarkeit sowie eine rasante nicht überschaubare Veränderungsdynamik, die nicht ohne weiteres beherrschbar ist. Bewältigen kann man diese schwierigen Begleiterscheinungen nur durch Vertrauen. Vertrauen ist die wichtigste Voraussetzung für das Meistern von Komplexem.

Vertrauen und Lebensfähigkeit

Das zuverlässige Funktionieren und die Lebensfähigkeit aller komplexen Systeme hängen davon ab, wie rasch und wie viel situationsrelevante Information gewonnen werden kann und wie zweckmäßig und zielführend verarbeitet. Über komplexe Umstände gewinnt man als Einzelner nie genug Information. Hier tappen wir zu einem guten Teil immer im Dunklen. Hier brauchen wir immer die zuverlässige Information und Hilfe anderer. Das Meistern von Komplexem verlangt daher immer Kooperation. Kooperation verlangt immer Vertrauen, wie es der Duden definiert: „das feste Überzeugtsein von der Verlässlichkeit bzw. Zuverlässigkeit einer Person oder Sache.“ Kooperation und Vertrauen sind die siamesischen Zwillinge der Komplexitätsbewältigung.

Vertrauen ist die Tür zur Information

Welche Zwecke und Ziele können durch Vertrauen real werden? Das wären die kybernetischen Fragen zum Vertrauen. Vertrauen ist quasi die Tür, durch die Information hinein- und hinausgeht. Durch Vertrauen macht und gewinnt man Mitteilungen. Vertraut man jemanden, wird man auf dessen Mitteilungen achten, sie glauben und verwerten. Wird einem vertraut, werden die Hinweise, die man geben kann, aufgegriffen und genutzt. Vertrauen nützt also der erforderlichen Orientierung, durch wechselseitiges Vertrauen erzielt man die nötige Kooperation.

Alles Gute…

Das Glück, alles Gute, die Gesundheit und der Erfolg hängen genauer gesagt davon ab, wie rasch und wie gut man auftretende Unterschiede wahrnimmt, die Veränderungen herbeiführen (können), die es erforderlich machen, sich an rasch genug an die neue Situation anzupassen. Damit ist auch klar, dass blindes Vertrauen allein nicht genügt. Es geht darum, dass man sich auf die Zuverlässigkeit von Menschen, Sachen oder Situationen absolut verlassen kann. Helfen wird nur berechtigtes Vertrauen, dies zu erzeugen, gehört zu den wichtigsten Funktionen von Führung und Management.

Alte Tricks

Es gibt unendlich viele Tricks, um das Vertrauen von Menschen zu gewinnen. Sie sind so alt wie die Menschheit, im Management und ganz besonders in der Werbung unendlich beliebt und ebenso kurzlebig in ihrer Wirksamkeit. Ein Wecken von Bedürfnissen, große Versprechungen und ein bisschen NLP reichen allemal, um sich das Vertrauen von Menschen zu erschwindeln. Aber es gibt keine Tricks, mit denen man das Vertrauen von Menschen auf Dauer aufrechterhalten kann. Das gelingt nur durch Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit. Trotzdem wird es immer Menschen geben, die prinzipiell nie, nichts und niemanden vertrauen. Das ist aber dann keine Frage mehr von Menschenführung, sondern einer der Psychotherapie.

Eigennutz statt Moral

Vertrauen, Liebe und dergleichen wird im Management meist mit Moral und sozialer Kompetenz oder Intelligenz in Verbindung gebracht. Meiner Ansicht nach ist das geistig viel zu bescheiden. Wer die Zukunft besser, schöner, leichter, ökonomischer und fortschrittlicher haben möchte, muss weitaus eigennütziger denken. Nämlich nicht primär  daran, wie viel Geld sondern wie viel Vertrauen er verdienen möchte – die Betonung liegt auf verdienen. Wer Vertrauen wahrlich verdient, der wird die nötigen Informationen, Erkenntnisse und Lösungen für seinen Erfolg und Gewinn auch in einer hyperkomplexen, völlig neuen Welt mit höchster Wahrscheinlichkeit gewinnen. Wem es immer gelingt, Vertrauenswürdige(s) und Zuverlässige(s) im Alten wie im Neuen rechtzeitig zu erkennen, der wird sogar regelrecht in Glück baden. Wem es immer öfter gelingt, der immer öfter. Deshalb ging  und geht es in dieser Kolumne Woche für Woche immer wieder um Bildung und insbesondere um den Nutzen der Systemwissenschaften dafür, verlässliches Wissen und zuverlässige Methoden von weniger vertrauenswürdigem zu unterscheiden. Vertrauensbildung ist immer ein guter Anfang und ein gutes Ende. Und nicht von ungefähr zielen die 30 Artikel der Menschenrechte vor allem darauf ab, dass Menschen Menschen vertrauen können…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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