Psycho-Trips

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Management im Kopf: Folge 88. Komplexität und Menschenführung: Über die Kontraproduktivität von Laien-Psychologie.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Er kam in geduckter Haltung zu mir. Bei der Auswahl eines Getränks war er verunsichert. Ob es in Ordnung sei, wenn er Kaffee nehme, fragte er mich. Nachdem ich ihn einlud, sich „einfach wie zu Hause zu fühlen“, fragte er mich noch dreimal, ob er seine Utensilien hier oder dort ablegen dürfe. Als ich ihn bat, mir den Anlass seines Besuchs zu schildern, schickte er voraus, dass er möglicherweise ganz falsch bei mir sei. Ich möge ihm das verzeihen, sollte dies der Fall sein, aber er wisse nicht mehr wohin mit seinem Problem. Jedenfalls vermute er, es hätte was mit Komplexität zu tun, und ich könne ihm daher vielleicht helfen. Dieser Mensch – ob Mann ob Frau ist für diese Geschichte unerheblich – war sich seiner selbst nicht mehr sicher. Wie sich später herausstellen sollte, hatten ihn nicht nur die Psycho-Diagnosen seines Chefs aus der Bahn geworfen…

Neustart

Wer und wie man selbst ist, dieses Bild davon entsteht zu einem guten Teil aus den Botschaften und Reaktionen, die man von anderen bekommt, insbesondere von seiner engeren sozialen Umgebung. Der Mensch, von dem ich hier erzähle, hatte gerade eine Scheidung hinter sich. Er war danach in eine andere Stadt gezogen und hatte dort als Experte für eine geplante Innovation eine neue Stellung angenommen. Er kannte dort niemanden und niemand kannte ihn. Aus den heftigen Auseinandersetzungen im Zuge der Scheidung hatte er ein Bündel an Attributen mitgenommen, die ihn in Summe als das herausstellten, was man landläufig als „den letzten Dreck“ bezeichnet. So von einem Menschen gesehen zu werden, von dem man dachte, man sei in Liebe mit ihm verbunden, tut extrem weh.

Vom Regen in die Traufe

Aber der Mensch, der da vor mir saß, war alles andere als wehleidig. Er litt nicht so sehr unter seiner enttäuschten Liebe. Er litt darunter, dass er seine Ehe so verkannt hatte und fürchtete daher, er verkenne sich selbst. Er litt darunter, dass er nicht mehr sicher war, wer und wie er war. Er verstehe schon, dass es bei seinem Rosenkrieg vor allem um die Teilung der Habe gegangen war. Er hätte bald gerne bewusst auf alles verzichtet, um aus „dieser Schlammschlacht“ herauszukommen. Zumal er sich durchaus in der Lage gesehen hätte, rasch eine neue Existenz aufzubauen. Es tue ihm auch heute nicht leid, dass er nur mit einem Koffer ausgezogen sei. Es sei bloß so, dass nun auch sein neuer Chef fast täglich eine unerfreuliche psychologische Diagnose bei ihm stelle und ihm eine Psychotherapie empfehle.

Das Muster

„Und was denken Sie, was mit Ihnen nicht stimmt?“, fragte ich ihn. Er sah mich ganz groß an: „Das wollen Sie wirklich von mir wissen?“ Ich nickte nur. Er zögerte eine Weile. Dann fragte er mich, was passieren würde, wenn er nun ganz einfach sage, was er wirklich denke. Ich antwortete ihm, dass ich dann wüsste dann, was er denke. „Nicht mehr und nicht weniger?“, fragte er mit einer Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit. „Nicht mehr und nicht weniger“, versicherte ich ihm. „Nun, ich denke über mich, dass ich nicht so gestört bin, wie man mir sagt.“ „Woran erkennen Sie das?“, fragte ich ihn. „Weil ich mit allen Leuten, mit denen ich nicht verheiratet war und die nicht mein Chef sind, ganz gut auskomme.“ Dass es sein Ex-Ehepart beabsichtigt hatte, ihn psychisch zu destabilisieren, sei ja klar. Man wisse ja, wie eine nicht einvernehmliche Scheidung laufe… Aber weshalb nun auch sein Chef…, das verstöre ihn sehr.

Informationsmangel

Ich hatte mit diesem Menschen auch kein Problem. Mir war an seinem Verhalten nichts aufgefallen, was in seiner Situation nicht verständlich gewesen wäre. Da dieser Mensch keinen Kontakt mehr mit seinem geschiedenen Partner pflegen musste und pflegte, konzentrierte ich mich bei der Suche nach seinem wahren Problem auf seinen Chef. „Wissen Sie, was Sie über Ihren Chef nicht wissen?“, fragte ich. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht!“, rief er. „Fällt Ihnen etwas ein, wenn Sie darüber nachdenken?“ „Nein“, antwortete er, „ich bin in letzter Zeit viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Bei jeder Psycho-Diagnose, die er mir stellt, lese ich nach, was sie bedeutet und dann grüble ich, ob sie etwas mit mir zu tun haben könnte…“ „Und finden Sie dann irgendetwas, was stimmen könnte?“ „Ja“, stimmte er trocken hinzu. Dann schwieg er gute zwei Minuten, bevor er herausplatzte: „Aber ich weiß nicht, ob das stimmt, wovon ich meine, dass es stimmen könnte!“ Das klang doch recht gesund.

Finde mehr heraus…

Dieser Mensch ging aus seiner ersten Sitzung mit mir mit der Aufgabe weg, mehr über seinen Chef herauszufinden. In die zweite Sitzung kam er in aufrechter Haltung mit erhobenem Kopf: „Ich weiß jetzt viel mehr“, legte er gleich nach der Begrüßung los. Mein neuer Chef soll zwar die Innovation einführen, die ich leitend entwickeln soll, er hat aber viel zu wenig Ahnung davon. Deshalb hat er einen externen Berater, der unter Kollegen dafür bekannt ist, dass er kaum mehr versteht als mein Chef. … Aber das ist noch nicht alles!“ Ich merkte gespannt auf. „Mein Chef macht seit einem halben Jahr eine Ausbildung in Psychotherapie. Daher kommen wohl seine laufenden Psycho-Diagnosen...“

Wem hilft es?

Der eine Experte für Künstliche Intelligenz, der andere ein ehemaliger Controller als CEO in einer Psychotherapieausbildung. Dazwischen als hehres Entwicklungsziel die Digitalisierung anspruchsvoller Geschäftsprozesse, wovon der eine ziemlich präzise Vorstellungen hatte und der andere so gut wie gar keine. Eine explosive Mischung. „Was wird für Ihren Chef besser, wenn mit Ihrer Psyche etwas nicht stimmt?“, fragte ich nach. „Das ist ganz einfach“, kam es wie aus der Pistole geschossen, „dann muss er meine Meinung nicht ernst nehmen, und schon gar nicht meine Einwände. Fachlich kann er mir nicht an, deshalb kratzt er an meiner Psyche.“ „Wie denken Sie heute über sich?“, fragte ich. „Ich glaube, mit mir stimmt nur eines nicht: Ich habe mir einen Chef ausgesucht, der nicht zu mir passt.“ Heute macht dieser Experte in einem Institut Furore, an dem man, nur nebenbei erwähnt, ziemlich viel von Psychologie versteht und hervorragende Roboter baut.

Zauberlehrlinge

Viele Menschen, die gerade in Seminaren oder gar in einem Studium an psychologische Phänomene herangeführt werden, neigen dazu, anderen die verschiedensten Psycho-Diagnosen zuzuschreiben. Für viele genügen auch schon kurze Artikel in Zeitungen und Illustrierten, um sich selbst als kompetente Psychologen zu verstehen. Völlig anders sieht das bei hochqualifizierten Psychologen aus. Sie hüten sich wie der Teufel vor dem Weihwasser davor, voreilige psychologische Diagnosen zu stellen. Warum? Das liegt an der Charakteristik komplexer Phänomene: Je mehr man über sie weiß, umso klarer wird, wie wenig man über sie weiß. Gerade was die Psychologie betrifft, hilft es, sich davor zu hüten, den Zauberlehrling zu geben. Es ist ein Fach, von dem man am besten extrem viel weiß oder gar nichts. Alles Teil- und Halbwissen dazwischen ist viel eher kontraproduktiv als hilfreich.

Mit Nichtwissen klappt es besser

Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen. Die meisten Menschen reagieren ungeheuer dankbar, wenn man ihnen sagt, dass man von ihrer Sache oder Situation viel zu wenig versteht, um wissen zu können, was los ist und daher zu tun ist. Das gilt für fachliche Fragen und ganz besonders für das Innenleben von Menschen. Es gilt auch für Organisationen, zu denen man selbst nicht gehört. So gut wie alle Menschen haben eine gesunde intuitive Idee von der Undurchschaubarkeit ihrer eigenen inneren Vorgänge. So gut wie jeder beansprucht mit Recht für sich, dass ihn niemand so gut kennt und niemand so gut weiß, was in ihm vor sich geht, wie er selbst. Aber für bei weitem nicht alle ist es selbstverständlich, auch anderen diesen Wissensvorsprung über sich selbst zuzugestehen. Hier aber beginnt der Respekt vor anderen.

Respekt

Was hilft es, im Alltag als Laie bei anderen bestimmte, wenn nicht gar beliebige Diagnosen über deren Psyche zu stellen? Was wird durch diese Respektlosigkeit besser? Je respektloser man Menschen behandelt, umso mehr werden sich diese verschließen. Je verschlossener sie sich verhalten, desto eher ist eine Psychodiagnose gerechtfertigt? Das ist der perfekte Bauplan für eine sichselbsterfüllende Prophezeiung. Je verschlossener sich jemand verhält, desto mehr ist man eingeladen, sein eigenes Verhalten ihm gegenüber ins Auge zu fassen. Das wäre der Ausweg: Was von einem selbst trägt dazu bei, dass ein anderer sich nicht öffnet? Stümperhafte Psycho-Diagnosen allemal.

Das müssen wir einen guten Psychologen fragen

Damit will ich nicht gesagt haben, dass es keine Führungssituationen gibt, in denen psychologische Kenntnisse gefragt, ja gar notwendig sind. Damit will ich nur gesagt haben, wenn dies der Fall ist, dann gibt es nur einen gesunden Weg: Leute fragen, die tatsächlich ausgewiesene Experten der Psychologie sind.


Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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