„Ich habe es ihnen eh gesagt!“

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Management im Kopf: Folge 90. Komplexität und Menschenführung: Führen ist mehr als das Sagen haben.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Moser, nennen wir ihn einfach so, ist aus dem Organigramm verschwunden. Obwohl er dort einmal als Bereichsleiter angesiedelt war. Anfang vierzig war er, als er diese Funktion übernommen hatte. Mit seinem Vorgänger, nennen wir ihn Aumann, war eine echte Autorität in den Ruhestand getreten. Aumann hatte den Betrieb mitaufgebaut, er hatte das System des großen Unternehmens daher in seinem kleinen Finger gehabt. Bei ihm hatte oft nur ein Wort genügt, damit in Gang gekommen war, was passieren sollte. Genauso wie Aumann wollte Moser als Chef auch sein. Doch bald stellte sich heraus, dass er von Tag zu Tag mehr Worte brauchte, um immer weniger zu sagen. Mit 45 war Moser ein Wrack. Das Folgende war sein Problem. Aber er ist an ihm gewachsen.

Herr, sprich nur ein Wort…

Wenn Aumann etwas sagte hat, leisteten seine Mitarbeiter folge. Sie haben sich auf sein Wort verlassen. Moser kam das Führen daher ganz leicht vor. So legte er als Bereichsleiter mit dem unglückseligen Vorhaben los, eine perfekte Kopie von Aumann zu sein. Er sagte, was Sache und zu tun sei und ging davon aus, dass es dann auch passierte. Seine Mitarbeiter sahen das ganz anders. Aumann wäre niemals in den Sinn gekommen, was Moser sich vorstelle. Deshalb passierte auch so gut wie nichts, nachdem Moser irgendetwas gesagt hatte. Bald ging nichts mehr so richtig weiter. Drum sagte Moser bald immer mehr, erreichte damit aber immer weniger.

„Ich habe es ihnen ja eh gesagt!“

Der Vorstand rief Moser zu sich, um die Fehlentwicklung zu stoppen. Zu jeder Angelegenheit, die neuerdings nicht mehr passte, erklärte Moser dem Vorstand nur: „Ich habe es ihnen ja eh gesagt!“ Den Vorständen schwante zwar schon, dass die Fehlentwicklungen auf eine Fehlbesetzung zurückzuführen sein könnten. Aber Moser sollte seine Chance bekommen. Man hatte ihn vor seiner Beförderung in eine Führungskräfteausbildung geschickt. Er müsse eben erst auf die Sprünge kommen. Hoffte man. Was man dabei komplett übersehen hatte, war, dass Mosers Vorstellung davon, wie Kommunikation unter Menschen funktioniert, vollkommen unrealistisch war, er aber genau dieses Modell aus seiner Ausbildung „mitgenommen“ hatte.

Neue Algorithmen

Die Rede ist von einem weit verbreiteten, aber viel zu stark vereinfachten Kommunikationsmodell, in dem ein Sender seine Signale an einen Empfänger schickt, der sie aufnimmt und fertig. Moser war ein hochqualifizierter Ingenieur, dem die Kybernetik nicht ganz fremd war. Er wusste, Kommunikation funktioniert in lebenden und technischen Systemen gleichartig. Mit der Technik kannte er sich gut aus, sie war daher auch sein unbewusstes Modell für die Menschen. Wissen aus der Biologie, den Geistes- und Kulturwissenschaften brachte er so gut wie keines mit. Für ihn funktionierte alles wie Maschinen, Komplexeres nach einem bestimmten Algorithmus. Er meinte, er müsse bloß die passenden Algorithmen finden.

Gebt ihm einen Coach

So stellte man ihm einen Coach beiseite. Was dazu führte, dass Moser seine bislang rein sachlichen Inputs neuerdings mit sozialorientierten Beziehungsbotschaften bereicherte. Er hatte aber kaum Bewusstsein für soziale Beziehungen, sie klangen daher ziemlich seltsam. „Damals fing er an, um seine Vorgaben Veilchen und Gänseblümchen zu winden“, sagte ein Abteilungsleiter später dazu, „das Problem ist: Er kennt das System nicht gut genug. Er löst Chaos aus, lässt sich aber von niemanden etwas sagen.“ Die anerkennenden, lobenden, anspornenden oder schmeichelnden Worte, die Mosers zu wenig durchdachten Interventionen nun voraus- und hinterhereilten, um seiner sozialen Kompetenz Ausdruck zu verleihen, steigerten die Irritationen bei seinen Mitarbeitern nur weiter.

Krieg im Kopf

Als mir Moser vorgestellt wurde, stand er bereits stark unter Stress. Er redete viel und schnell, brachte aber keinen einzigen vollständigen Satz zustande. Viele seiner sprunghaften Gedanken begannen zwar spannend, verliefen dann aber im Leeren. Für vieles, was Moser unbedingt sagen wollte, fand er keine Worte mehr. Und er war offensichtlich verzweifelt. Die Komplexität seines Verantwortungsbereichs war ihm bewusster als den meisten anderen. Nicht bewusst war ihm, dass er ohne die Informationen aus einem Umfeld nur ein unrealistisches Bild vom Wirkgefüge des Unternehmens entwickeln konnte. Moser hörte niemandem zu, sein Stresszustand hatte sein Gehirn längst auf Autopilot gestellt. Er war von der fixen Vorstellung getrieben, verfahrene Situationen durch die Wiederholung, Steigerung und beliebige Variation von Inputs unter Kontrolle bringen zu können. Nach dem Prinzip von Trial und Error setzte Moser Input für Input, wobei sich jeder Trial als Error herausstellte, weil er niemandem zuhörte und von niemandem dazulernte.

Monokausalität Aumann

„Sind Sie Aumann?“, fragte ich ihn. „Nein, ich bin nicht Aumann, aber ich muss Aumann sein, damit es funktioniert!“, rief Moser aus. „Können Sie Aumann sein? Haben Sie erlebt, was er erlebt hat, getan, was er getan hat?“ „Aber nein, wie könnte ich!“ „Wie soll es dann Ihr Gehirn aushalten, Aumann sein zu sollen?“ Er verstand mich nicht, und er verstand nicht, dass die inneren Vorgänge in Menschen deutlich komplexer sind als in Antiblockiersystemen oder ganzen LKW. Moser verstand nur: Aumann war die Ursache für den erfolgreichen Aufbau und die langjährige Produktivität des Technikbereichs. Seine Mitarbeiter spielten dabei keine Rolle.

Kontrollwahn

Unter dermaßen hohem Stress ist keine Verständigung möglich. Bei Moser konnte nur noch Entspannung helfen. Eine Menge nicht beanspruchter Urlaub stand an. Aber wie meistens in solchen Fällen, weigerte er sich, ihn zu konsumieren. Im Gegenteil, er war täglich von acht Uhr morgens bis zwei Uhr früh im Betrieb, schrieb viele Seiten lange E-Mails an viele Adressaten, um vergeblich Missverständnisse zu klären und sich doch noch verständlich zu machen. Der Vorstand hätte von seiner technischen Intelligenz irrtümlicherweise auf seine soziale geschlossen, hieß es. Im Vorstand sah man das anders, ohne höchste technische Kompetenz könne diesen Bereich niemand leiten. So kam es, dass Mosers Team seinem stressbedingten Kontrollwahn ausgeliefert blieb. Bald zeigte er deutliche Gedächtnisstörungen. Moser verließ das Unternehmen letztlich bewusstlos mit Blaulicht und Horn.

Zehn Jahre später

„Sehr geehrte Frau Pruckner, wahrscheinlich können Sie sich nicht mehr an mich erinnern. Trotzdem ersuche ich Sie um ein Gespräch …“ So begann eine E-Mail, die ich rund zehn Jahre später von Moser erhielt. Selbstverständlich konnte ich mich sofort an ihn erinnern, als hätte ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen. Er hätte in den letzten drei Jahren mindestens zwanzigmal mein Buch InFormation durchgearbeitet, um zu verstehen, was (mit) ihm passiert sei, schrieb er. Nun möchte er sicherstellen, ob er das Phänomen der Kommunikation endlich richtig verstanden habe. Denn noch einmal möchte er an einem Missverständnis nicht beinahe zugrunde gehen.

Schmächtig

Als ich ihn kennengelernt hatte, hatte Moser eine Statur, die eine große Harley Davidson unter ihm wie ein Moped aussehen ließ. Als er nun in mein Büro kam, war er so schmächtig, dass ein Moped unter ihm wie eine Harley Davidson ausgesehen hätte. Er bat mich, ihm einfach nur zuzuhören, welche Kommunikationstheorie er nun entwickelt hätte. Dann möge ich ihm Rückmeldung geben, ob er endlich verstanden habe, worauf es ankäme. Erst dann würde er mir erzählen, was in seinem Leben in den letzten zehn Jahren passiert sei. Seine Worte dafür waren ausgesprochen klar, seine Sätze fließend und gut gebaut.

Selbstdiagnose

„Ich habe mir damals eingebildet, meine Mannschaft ist eine Maschine und meine Mitarbeiter sind ihre Bestandteile. Ich habe sie geführt wie einen Motor, mit Schraubenschlüsseln, Zangen, Treibstoff, Schmieröl und Ersatzteilen. Ich habe mir gedacht, ich muss einfach nur meinen Input verändern, bis der Output passt. Wären meine Mitarbeiter intelligente Roboter gewesen, wäre ich damals blöd genug gewesen, zu glauben, ich könne sie steuern, ohne ihre Algorithmen zu kennen. Was ich überhaupt nicht mitbekommen habe war, dass es zwischen Menschen Wechselwirkungen gibt. Ich war blind dafür, dass ich versucht habe, meine Mitarbeiter zu steuern, während sie mich gesteuert haben. Weder ich noch meine Mitarbeiter haben Regulierungsversuche zugelassen. Das konnte nur eskalieren. Dann legte er seine „Prüfung“ in Sachen Kommunikation ab.

Ich Trottel

„Ich Trottel hatte immer nur die Steuerung und Regelung im Kopf, und ich dachte, ich hätte beides in der Hand. Dass Kommunikation ein wechselseitiger Vorgang ist, der von Wandlern abhängt, habe ich völlig übersehen.“ „Maschinen haben eben nie mit Ihnen gesprochen…, nicht wahr?“ „So kann man sagen“, sagte er schmunzelnd darauf. „Sie haben also Ihre Botschaften für den Input gehalten, und nicht das, was durch die Dekodierung bei den Adressaten angekommen war?“ „Genau, ich habe die Funktion der Kodierung und Dekodierung übersehen, und vor allem das Grundproblem der Nachrichtenübertragung!“ „Was meinen Sie genau?“ „Na eben, was Sie schreiben, dass Kommunikation von Natur aus prinzipiell nicht funktioniert!“ „Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?“ „Ich weiß heute, dass ich nicht nur nie Aumann sein werde, sondern auch nie eine gute Führungskraft. Ich bin der typische Experte – für Maschinen, nicht für Menschen.“ Eine entsprechende Karriere hatte er dann eingeschlagen, sie läuft nun ganz gut.

Sie haben es uns eh gesagt…

Norbert Wiener und Claude Shannon haben es uns Ende der 1940er-Jahre „eh schon gesagt“: Ein Sender hat es niemals in der Hand, was von seiner Botschaft bei einem Empfänger wie ankommt. Es braucht bestimmte Voraussetzungen, damit Verständigung funktionieren kann. Das gilt zwischen Menschen, in Maschinen, zwischen Maschinen und zwischen Menschen und Maschinen. Wie man bis heute sieht, hilft es auf weiten Strecken gar nichts, Leuten das einfach nur zu sagen. Es hilft nur Menschen wie Moser. Der ist kein Trottel. Der wurde zwar ziemlich tief in eines der grundlegendsten Probleme des Lebens hineingedrückt. Er war aber schlau genug, das Nötige darüber so gut zu lernen, dass er es heute vermeiden bzw. lösen kann.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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