Wertvoller Gegenwind

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Management im Kopf: Folge 91. Komplexität und Menschenführung: Widerstand besser nutzen - statt bekämpfen.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Viele fürchten Widerstand, umgeben sich lieber mit Ja-Sagern und Schulterklopfern, gehen lieber faule Kompromisse ein, vermeiden ernsthafte Konfrontationen. Genauer hingesehen gehört aber jeder Widerstand zum Wertvollsten, was einem die komplexe Welt liefern kann. Intime Kenner komplexer Systeme nutzen ihn, anstatt ihn zu umgehen oder gar zu bekämpfen.

Engagement

Wo Widerstand herrscht gibt es eine Gegenkraft, Gegendruck, Gegenwehr, vielleicht sogar Auflehnung, zumindest Opposition oder vielleicht einfach nur Resistenz. Widerstand ist  mehr als ein Gegenstand der im Weg steht. Da ist jemand dagegen. Da lässt sich jemand etwas nicht gefallen. Da wehrt sich jemand. Da macht jemand nicht mit. Das bedeutet aber noch nicht, dass Widerstand schlecht ist. Es bedeutet nur, dass sich hier jemand gegen jemand oder etwas engagiert. Zustimmung, Anerkennung oder einfach nur Mitmachen müssen hingegen nicht bedeuten, dass dahinter auch Anstrengung steckt. Es kann auch bedeuten, dass man den Dingen einfach nur ihren Lauf lässt oder jemanden bewusst „anrennen“.

Freund oder Feind?

In den dermaßen komplex-dynamischen Wirkgefügen von heute kann niemand ohne weiteres wissen, ob Widerstand als freundschaftliche oder feindliche Reaktion gewertet werden muss. Kein Mensch kann allein zutreffend abschätzen, welche erwünschten und unerwünschten Wirkungen ein Vorhaben, eine Maßnahme oder dergleichen auslösen kann. Befürworter einfach als Freunde und Leute, die Widerstand leisten, als Feinde zu betrachten, wäre daher nicht klug. Befürworter können einen auf den falschen und Widersacher auf den richtigen Weg führen. Es lohnt sich, beiden sehr genau zuzuhören.

Nur über meine Leiche

Ein Finanzinstitut sollte modernisiert werden, Digitalisierung und so. Die einen wollten sofort auf jeden aktuellen Hype aufspringen, die anderen sagten dazu: „Nur über meine Leiche.“ Sie verfolgten eine konservativere Strategie. Diese wiederum wollten die Leute aus der anderen Gruppe nur über ihre Leiche zulassen. Im Aufsichtsrat sah man das nüchtern: „Wenn ihr so weitermacht, liegt bald das Unternehmen als Leiche da...“ Man kehrte zurück an den Start. Das Management-Board wurde von drei Universitätsinstituten fundiert in die Licht- und Schattenseiten der Digitalisierung eingewiesen, und zwar im Kontext des nachhaltigen Kundenvertrauens. Als Leiche blieb die ursprüngliche Strategie zurück. Es kam eine Idee zur Welt, die erfolgreich verwirklicht wurde. Widerstand hat nicht immer, aber oft mit Unverstand, fehlendem Wissen, fehlender Information zu tun. Das hat man in diesem Aufsichtsrat erkannt und entsprechend genutzt.

Gegen jemand oder etwas?

„Spätestens wenn Probleme geklärt werden müssen, brüllen sie einander an wie wild gewordene Tiere.“ In einer Holding sprach man vom ‚hartnäckigen Widerstand‘ der Vorstände eines Tochterunternehmens. Ich sollte eine gemeinsame Sitzung beobachten. In dieser kam es dann doch ein bisschen anders. Der CEO und der CFO brüllten aus Leibeskräften den CIO an. Der reagierte  anfangs nur leise, wurde aber bald ganz still. Nach dieser Sitzung hieß es, um genau dieses Muster gehe es. Sei aufgefallen, dass nur der CEO und CFO gebrüllt hatten, der CIO aber immer ruhiger geworden war? Ach so? Ach ja! Ja genau! Der hatte ja gar nicht gebrüllt… Angriffe und Widerstand sind nicht dasselbe. Angriffe kämpfen gegen jemanden, Widerstand kämpft gegen etwas. Der einzige Widerstand, der hier zu sehen war, war der passive Widerstand des CIO gegen die Aggressivität seiner Kollegen. Die Tochter agiert heute mit einem neuen Vorstand. Nur der CIO hat es hinauf in die Holding geschafft.

Gegen die Angst

Er – ich meine mit der männlichen Form übrigens immer einen Menschen, wenn ich nicht explizit erwähne, dass von einem Mann die Rede ist – er also war Zeit seines Lebens Reformer und Pionier. Seit eh und je gegen den Strom, gegen Widerstände unterwegs. Ja, das sei anstrengend gewesen, meinte er im hohen Alter. Aber es sei schließlich auch etwas dabei heraus gekommen… Woher hatte er seine Ausdauer genommen? Er habe Machiavellis berühmtes Zitat nur um drei kleine Wörtchen ergänzt (siehe Großbuchstaben): „Es muss bewusst sein, dass nichts schwieriger ist, zu planen, nichts mit mehr Zweifel am Erfolg verbunden und nichts gefährlicher zu managen, als das Schaffen eines neuen Systems. Denn als Pionier hat man den Widerstand all jener, die MEINEN, vom Alten mehr ZU profitieren und nur stille Befürworter in all jenen, welche BEREITS Vorteile im Neuen für sich erkennen.“ Er hatte seine Motivation nie abhängig von der Anerkennung anderer gemacht, immer berücksichtigt, dass Angst zu den stärksten Kräften des Widerstands gehört und sich viel Zeit genommen, um Ängste einfühlsam abzubauen.

Da mache ich nicht mit

Er hatte ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie er sich aus seinem Dilemma befreien wollte. Sein Image als Geschäftsführer war aufgrund mehrerer Fehlentscheidungen hart angeschlagen. Ein namhafter Top-Berater musste her, um ihm aus der Patsche zu helfen. Der sah sich das Ganze an und machte seinen Vorschlag. Er bekäme den Auftrag, so der Geschäftsführer, aber nur, wenn er dieses und jenes so und so mache. Der Berater erhob sich spontan zum Gehen: „Nein. Das mache ich nicht. Das kann ich nicht verantworten.“ Welch seltsame Vorstellung er von Kundenorientierung habe! Wie könne er sich einem Kundenwunsch einfach widersetzen? Was erlaube er sich eigentlich! Der Geschäftsführer war aufgebracht, der Berater blieb ganz ruhig: „Ich erlaube mir, auf selbstständiger Basis eigenverantwortlich nur solche Dienstleistungen zu erbringen, die meinen Kunden nutzen. Für das, was Sie vorhaben, gebe ich meinen Namen nicht her.“ Wie viel er denn dafür verlange, fragte der Geschäftsführer. „Ich sehe mich da falsch von Ihnen verstanden“, reagierte der Berater, „ich verlange gar nichts, ich übernehme Ihren Auftrag nicht.“ Anerkannte Experten widersetzen sich kontraproduktiven Ideen, das ist typisch für sie.  Auch hier kann man auf Machiavelli zurückgreifen: „Ein Fürst, der nicht weise ist, kann auch niemals weise beraten werden.“

Funktionelle Opposition?

Ob in der Politik, in Kammern, Personalvertretungen, Gewerkschaften oder dergleichen: In bestimmten Funktionen ist das Widerstandleisten ein wesentlicher Teil der Aufgabe. Das ist gut so, solange die tatsächlichen Interessen der eigenen Mitglieder verfolgt werden. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie gut Interessensvertreter die wahren Interessen ihrer Gruppe (noch) kennen. Weiter kommt man, wenn man selbst zum Interessensvertreter aller Stakeholder wird. Dann erfährt man das meiste darüber, was eine optimale Lösung oder die Optimierung eines Systems braucht. Setzt man zudem fundierte systemwissenschaftliche Erkenntnisse ein, wird es ein Leichtes, zu beurteilen, wie sinnvoll oder unsinnig Widerstand oder Zustimmung jeweils ist. Dann wird es durchaus möglich, alle in einem System ein bisschen glücklicher zu machen. Selbst wenn es um ein hochkomplexes System geht und oft gerade dann. Denn unter schlecht organisierter Komplexität leiden alle und durch gut organisierte kommt es für alle zu Verbesserungen.

Prinzipielle Opposition?

Es gibt dann unter den wichtigsten aller Widerstände noch die prinzipielle Opposition. Damit meine ich Leute, die prinzipiell gegen etwas sind, weil andere dafür sind. Sie halten sich in der Anzahl in Grenzen und treten meist vereinzelt auf. Nur selten formieren sie sich in Grüppchen, heute allerdings dank Internet viel eher als früher. Querulanten nennt man sie, Quertreiber, Stänkerer, Nörgler, Raunzer, Meckerer, Rebellen  oder Räsoneure. Sie sind im Grunde ziemlich berechenbar und zeigen sich als Erstes. Sie werden gegen das sein, wofür andere sind und für das, wogegen andere. Einfach nur aus Prinzip, nicht wegen jemanden oder etwas. Sie meinen mit ihrem Widerstand immer nur sich selbst. Sie haben morgen schon vergessen, wogegen sie gestern waren, weil es heute schon wieder etwas Neues gibt, wogegen sie sind. Man sollte sie und ihre Verbindungen im Auge haben, aber nicht überschätzen.

Kooperation?

Es spricht vieles dafür, dass alles, was funktioniert, auf Kooperation angelegt ist. Also darauf, durch gezieltes Zusammenhelfen gemeinsam etwas zu erreichen, und zwar mehr, als Einzelne allein erreichen können. In diesem Sinne kann Widerstand ein deutliches Zeichen von Kooperation sein. Gefügige Gefolgsleute hingegen können sich allemal als bequeme Schleimer, orientierungslose Lemminge oder naive Zauberlehrlinge herausstellen. Es gibt heute so gut wie keine Lösungen, die ganze Systeme um sie herum unbelastet lassen. Widerstände sind immer ein entscheidender Hinweis darauf, was Einzelne und das Ganze tatsächlich brauchen. Um Widerstand und Gefolgschaft zutreffend zu bewerten, genügt eine einzige Leitfrage: Was dient der Sache/dem System? So haben sich gerade in meinen komplexesten Projekten meine anfänglich heftigsten Gegner letztlich häufig als meine besten Freunde herausgestellt. Während meine „Freunde“ nicht gerade selten in Deckung gingen, sobald es wahrlich ernst wurde…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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