Angst vor der Angst

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Management im Kopf: Folge 92. Komplexität und Menschenführung: Komplexität macht Angst und das macht Angst.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Ist die Arbeit an komplexen Angelegenheiten system-, hirn- und menschengerecht organisiert, geht man Aufgaben in der Regel fasziniert und engagiert, fokussiert und konzentriert, systematisch, kooperativ und effektiv nach. Man lernt sehr rasch das Erforderliche, passt sich Neuem und Veränderungen flink und erfolgreich an. Mit einem Produktivitäts- und Innovationsgrad, der sich für wahr sehen lassen kann. Ist das nicht der Fall, hat man es mit ziemlicher Gewissheit mit den typischen Reaktionen auf unbewältigte Komplexität zu tun. Sie lassen sich nicht wegreden, nicht wegdenken und nicht wegschieben. Sie entstehen durch die naturgegebenen Grenzen des Gehirns. Um sie zu überwinden, sind die Systemwissenschaften überhaupt erst entstanden. In ihrer populären Form, dem „systemischen Denken“, ist das weitgehend unter den Tisch gefallen. Trotzdem gibt es nur einen nachhaltig erfolgreichen Weg: Aus den hirnbedingten Reaktionen auf Komplexes, besser gesagt, den Vor- und Nachteilen von Komplexität, die logischen Konsequenzen zu ziehen.

Sieht es eher so aus?

Arbeitet man in Ihrer Arbeitsumgebung interessiert, konzentriert und engagiert an der jeweiligen Sache? Werden in der Zusammenarbeit viele zielführende Fragen gestellt? Löst man auftretende Fragen und Probleme neugierig, fokussiert, oder gelassen und systematisch? Wird oft gelacht? Klärt man Situationen, die nicht so laufen wie geplant, mit hartnäckigem Forschergeist? Ist Kritik begehrt? Sind die kritisierenden Hinweise hilfreich? Reagiert man aufgeschlossen auf sie, lernt man durch sie dazu? Verfügt man in Ihrer Umgebung bezüglich anstehender Aufgaben über die wichtigsten Informationen? Weiß man, was man wissen muss? Ist klar, welche Informationen und Qualifikationen noch fehlen? Werden sie rasch genug gewonnen? Werden unerwartete Veränderungen an relevanter Stelle rasch genug bekannt und rasch genug entsprechende Anpassungen vorgenommen? Wenn Sie diese Fragen mit einem eindeutigen Ja beantworten können, arbeiten Sie in einer Umgebung, in der man komplexen Verhältnissen professionell und souverän begegnet. Gratulation!

Oder sieht es eher so aus?

Wird über Themen endlos und oft ohne konkrete und verbindliche Ergebnisse diskutiert? Bleiben wichtige Entscheidungen zu lange aus, oder haben sie oft den Charakter von „wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass“? Sehen Sie sich – bei aller Diskussion – letztlich immer auf sich allein gestellt? Bekommen Sie oft nur unklare, widersprüchliche, nebulöse, unverständliche oder nichtssagende Hinweise für Ihre Aufgaben und auf Ihre Fragen? Ist es schwierig, wichtige Ansprechpartner rechtzeitig und ausreichend lange zu sprechen? Läuft Ihre Kommunikation vor allem über viele und lange E-Mails? Können sich die Menschen, die kooperieren müssen, aufeinander verlassen? Geht es in Ihrer Umgebung viel öfter darum, weshalb etwas nicht funktioniert als darum, wie es funktionieren könnte? Scheut man die Verantwortung? Herrschen häufig offene oder verdeckte Konflikte? Sind viele Leute mehr mit sich selbst als mit ihren Aufgaben beschäftigt? Gibt es nur selten einen Grund, zu feiern und stolz auf das Erreichte zu sein?

Komplexität: zu viel für ein Gehirn

Ist Ihnen die zweite Skizze vertrauter als die erste, stecken letztlich immer ungelöste Probleme durch Komplexität dahinter. In der Wissenschaft spricht man, einfach gesagt, dann von Komplexität, wenn in einem System mehr vor sich geht und mehr möglich ist, als ein einzelnes menschliches Gehirn oder der beste Computer zutreffend erfassen und verarbeiten können. Ein Beispiel wäre das Internet. Kein Mensch kann sagen, was es gerade alles enthält, welche neuen Inhalte und Vorgänge in der nächsten Sekunde auftreten und welche bestehenden verschwinden werden. Mit den Vorgängen in einem Betrieb ist es nicht anders. Im Wesentlichen führt Komplexes daher zu unüberwindbarer Intransparenz, man hat nie genug Information. Hinzu kommt, dass es von undurchschaubaren Eigendynamiken angetrieben wird. Diese machen es unmöglich, die Entwicklungen in der Zukunft sicher richtig vorherzusehen und vorab sicher wissen zu können, welche Maßnahmen zu Verbesserungen, Verschlechterungen, Wirkungslosigkeit bzw. nicht erkennbaren Wirkungen führen werden.

Angst

Komplexes bringt also zwangsläufig Ungewissheit und Unsicherheit mit sich. Es sollte daher nicht überraschen, dass Stress und Angst die typischen menschlichen Reaktionen auf Komplexes sind. Unter Stress und Angst wird viel leichter viel mehr möglich und wahrscheinlich, als unter gesunder Entspanntheit. Aber nur Weniges davon hilft beim Erfüllen von Aufgaben, Vermeiden bzw. Lösen von Problemen; das meiste schadet. Durch Angst und Stress werden Betriebe komplexer als sie sein müssen, um ihre Zwecke und Ziele zu verwirklichen. Durch Angst und Stress werden das vernünftige, systematische Beobachten und Denken blockiert und damit enormes Konflikt- und Fehlerpotential mobilisiert. Aktiv werden vor allem Selbstschutzreaktionen, von der Realitätsverleugnung bis zur Realitätsblindheit, von der Schönfärberei bis zu Verschwörungstheorien, Hyperaktivität bis zur Lähmung, Aggressivität bis zur Teilnahmslosigkeit, usw. Auf den Punkt gebracht programmieren Angst- und Stressreaktionen den Misserfolg.

Die Angst vor der Angst

Die Forschungsergebnisse über diese typischen Reaktionen sind seit Langem publiziert, aber nur den Wenigsten bekannt. Auch das sollte nicht wundern. Sie wären falsch, wäre es anders. Denn auch hinter den Erkenntnissen über diese Angst- und Stressreaktionen stecken äußerst komplexe Vorgänge. Das macht sie für viele Manager schon alleine „aus Zeitmangel“ uninteressant. Für Unternehmer und Führungskräfte bedeuten diese Forschungsergebnisse zudem: Passt mal auf, ihr habt es in der komplexen Welt von heute und morgen immer mit Angst zu tun – mit eurer eigenen und mit der Angst anderer. Angst zu haben, passt nicht zum guten Image erfolgreicher Unternehmer, souveräner Führungskräfte. Was liegt dann näher, als den Umstand komplexitätsbedingter Angst zu verdrängen, ignorieren, verleugnen? Als häufigste Reaktion auf diese Forschungsergebnisse erlebe ich jene, die sie beschreiben: Angst, genauer gesagt, Angst vor  komplexitätsbedingter Angst. Wäre es anders, wäre es im Management spätestens seit den 1990er-Jahren en vogue, sich auf diese Angst einzustellen. 1989 erschien Dietrich Dörners „Die Logik des Misslingens: strategisches Denken in komplexen Situationen“, ein Werk, das speziell für Führungskräfte verfasst ist.

Der Nutzen der Angst

Mit all dem soll nicht gesagt sein, dass Angst per se schlecht ist. Vor allem schlage ich vor, sorgfältig zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden. Angst bezieht sich auf etwas Unbekanntes, Ungewisses. Ein Beispiel dafür wäre eine schwierige Aufgabe, die man noch nie gemacht hat. Furcht bezieht sich hingegen auf etwas Konkretes, das man klar benennen und begründen kann. Ein Beispiel dafür wäre eine Aufgabe, die man schon öfter gemacht hat und bei der es erfahrungsgemäß zu Problemen kommt, die man genau beschreiben kann. Der Nutzen von Angst liegt im Mobilisieren höherer Vorsicht, Aufmerksamkeit und vor allem von Hilfe. Kontraproduktiv wird sie erst, wenn hilfreiche Hilfe ausbleibt. Der Nutzen von Furcht liegt in der besseren Vorbereitung und Ausrüstung, um auftretenden Schwierigkeiten erfolgreich zu begegnen.

Angst zeigt sich nur selten nackt

Furcht zeigt sich meist ziemlich ungeschminkt, meist in geäußerten Befürchtungen, Anfragen nach erforderlichen Ressourcen, nötiger Unterstützung. Angst hat hingegen viele Gesichter, ja Masken. Von der vorgetäuschten Souveränität bis zur Arroganz, von der Entscheidungsunfähigkeit bis zum Despotismus, von der Realitätsblindheit bis zu Verschwörungstheorien, von fehlender Empathie bis zum Sadismus, von der Humorlosigkeit bis zum Zynismus, von der Kooperationsverweigerung bis zur Untätigkeit, vom unguten Gefühl bis zur Panikattacke, von der Schönfärberei bis zur Schwarzmalerei, von der Aktionitis bis zur Handlungsunfähigkeit, von der übersteigerten Freundlichkeit bis zu bemerkenswerter Aggressivität, usw. Angst zeigt sich nur selten explizit, weder bei anderen, oft auch nicht bei sich selbst. Es hilft daher, davon auszugehen, dass hinter unproduktivem Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit Informationsmangel und Angst stecken, und/oder Erschöpfung, weil beides schon zu lange quält und zermürbt.

Zeitgemäße Unternehmenskultur

Zu einer zeitgemäßen Unternehmenskultur gehört es in logischer Konsequenz, die bekannten Angst- und Stressreaktionen bei Komplexem als konstante Prämisse anzunehmen. Man muss sie als selbstverständlich voraussetzen und geeignete Strategien etablieren, um sie abzubauen. Ich betone, um sie abzubauen, denn vermeiden kann man sie nicht, so lange das menschliche Gehirn so gebaut ist und arbeitet wie heute. Beschreibe ich den erreichbaren Optimalzustand einer komplexitätsgerechten Organisation wie oben im ersten Absatz, stoße ich meistens auf Unglauben. Aber es gibt ihn in vielen Bereichen. Am häufigsten trifft man ihn unter Wissenschaftlern an. Auch das sollte nicht verwundern. Hier ist das Meistern von Komplexem der Unternehmenszweck. Hier arbeitet man mit wissenschaftlichen Grundlagen und Strategien, um komplexe Verhältnisse erfolgreich zu erforschen und um erfolgreiche Lösungen für solche zu entwickeln. Hier arbeitet man heute auf fast allen Gebieten konsequent mit den Grundlagen bewährter systemwissenschaftlicher Erkenntnisse.

Das kann doch nicht wahr sein?

Auch dieser Beitrag wird wieder so manchen nur dazu anregen, sich dergleichen zu denken: Das kann doch nicht wahr sein. So ein Blödsinn. Dafür habe ich beim besten Willen keine Zeit. Was soll denn das? Die spinnt ja... Ich bin aus systemischen Gründen und Gründen solider Menschenführung ein großer Fan der Menschenrechte. Menschen ohne adäquate Hilfe in Angst leben zu lassen, steht in keinem ihrer Artikel, die Meinungsfreiheit schon. Ja, man darf meinen, dass all das hier Blödsinn, übertrieben, haltlos und sonstwas ist. Man kann sich aber auch überlegen, wie lange man sich die nicht verwirklichten Chancen, Gewinne, Fortschritte, Erfolge, Innovationen, etc., noch leisten will oder kann, die durch komplexitätsbedingte Angst entstehen. Oder anders gesagt, wie lange man die Augen vor den unvermeidlichen Begleiterscheinungen der neuen Zeit noch verschließen möchte. Denn gerade die Ära der maximalen Digitalisierung sorgt letztlich für die totale Intransparenz für alle, die sie nicht selbst herstellen. Man kann sich auch fragen, ob man sich lieber dafür Zeit nehmen möchte, all die Mängel und Konflikte zu managen, die durch komplexitätsbedingte Angstblockaden und ihre kontraproduktiven Wechselwirkungen zwischen Menschen entstehen, oder dafür, sich und seinen Verantwortungsbereich auf komplexitäts-, hirn- und menschengerechte Rahmenbedingungen einzustellen.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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