Sie verstehen mich nicht…

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Management im Kopf: Folge 93. Komplexität und Menschenführung: Asymmetrische Information und Anschlussfähigkeit.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Ein Kinderspiel? Ja. Aber auch eines der größten Probleme unserer Zeit. Die Rede ist diesmal vom Problem der asymmetrischen Information. Es entsteht, wenn Menschen für Geschäfte, Projekte oder Verträge nicht über dasselbe Wissen und dieselben Informationen verfügen. Kann der Berater das Problem tatsächlich lösen? Ist der Programmierer in der Lage, die App zu realisieren? Leistet die Software was sie verspricht? Kennt sich der Anwalt mit der Rechtsmaterie gut genug aus? Besonders für solche und ähnliche Fragen kann man vor dem Kauf- oder Vertragsabschluss nicht sicher wissen, ob man vertrauenswürdige Angebote bzw. verlässliche kompetente Partner vor sich hat. Diese Situation ist heute dank der Komplexität vieler Produkte und Dienstleistungen die Regel. Der Kürze halber nur eine grobe Skizze eines ziemlich heiklen und teuren Problems.

Anschlussfähigkeit?

Wenn Menschen „miteinander können“ sollen, legen sie auf die soziale Kompetenz ihrer Umgebung wert, und auf anschlussfähige Aussagen über die Wirklichkeit, die sie also als möglich, wahrscheinlich bzw. nützlich akzeptieren können. Diese Anschlussfähigkeit entsteht, wenn Aussagen zu den Annahmen, Weltbildern und Vorstellungen der Kommunikationspartner passen. Dann tut man sich leicht miteinander. Doch durch diese kuschelige Rahmenbedingung entsteht die Gefahr, dass der Anschluss an eine erfolgreiche Zukunft verpasst wird. Sie verlangt heute meist ziemlich anspruchsvolles Wissen, über das nur wenige Pioniere verfügen. Oft scheitern diese Wegbereiter an der kognitiven Anschlussfähigkeit ihrer Umgebung. Denn das Nötige stellt die Vorstellungen vieler Leute auf den Kopf, und damit können viele leider noch nicht klug umgehen.

Schwarze Löcher

Der Umstand der asymmetrischen Information ist nicht von ungefähr ein zentrales Thema der relativ jungen Informationsökonomik. In diesem Gebiet geht man (wie in den Systemwissenschaften) davon aus, dass (aus Gründen der Komplexität) nie alle nötigen Informationen zur Verfügung stehen, Entscheidungen daher nie auf der Basis purer Vernunft entstehen können. Man widmet sich hier den Risiken und Kosten durch asymmetrische Information und möglichen Auswegen aus den damit verbundenen Konflikten. Denn sie werden schneller als man denken kann zu schwarzen Löchern, die Budgets und Chancen auf nimmer Wiedersehen verschlingen.

Die falsche Wahl

Eine erste Konsequenz asymmetrischer Information ist, dass man in solchen Situationen auf wechselseitiges Vertrauen angewiesen ist, das berechtigt sein, aber auch missbraucht werden kann. Als weitere Konsequenz kommt es häufig zur Wahl ungeeigneter Partner, weil man leichter Leuten vertraut, die so ähnlich denken wie man selbst. Eine dritte Konsequenz ist, dass man dadurch jene Leute übersieht oder vertreibt, mit denen man das Beste und Meiste erreichen könnte, weil man sich ihrer Führung nicht anvertrauen kann.

Es geht um die Wurst

Der nachhaltig erfolgreiche Umgang mit Komplexem verlangt generell ein spezielles Verständnis, das nur über Jahrzehnte harter Lernjahre entstehen kann. Das macht die Anzahl entsprechend kompetenter Experten von Natur aus gering. Dank heute gängiger Webkultur ist es ein Leichtes, den guten Ruf wahrer Spezialisten innert weniger Sekunden zu ruinieren. Mit wenigen Sternchen, vielen nach unten gerichteten Däumchen, unfreundlichen Emojis und bissigen Kommentaren, die jeder faktischen Grundlage entbehren. Jeder ein Experte. Jeder ein Richter. So wird mit viel Senf über wenig Wurst gepostet und kommentiert. Weil man sie unter sehr viel Senf versenkt hat, hält man den Senf bald für die Wurst.

Rückhalt und Zeit für die Besten?

Komplexe Themen, die nicht zum Allgemeinwissen gehören, verlangen einen klügeren Umgang als den, der sich im Internet beobachten lässt. Wer Menschen zu mehr Qualifikation und Können führen will, muss lehrenden und beratenden Experten den nötigen Rückhalt geben. Denn sie sind auf weiten Strecken mit unbewusster Inkompetenz konfrontiert, das heißt mit Menschen, die noch gar nicht wissen, was sie nicht wissen. Wobei gerade diese am meisten dazu neigen, sich für besonders kompetent zu halten. Bis diese Inkompetenz bei komplexen Themen bewusst werden kann und erforderliche Lernschritte entstehen, vergeht einige Zeit, die Vorreiter bekommen müssen, um etwas bewegen zu können. Zudem brauchen sie den nötigen Rückhalt, um typische Missverständnisse, die beim Erlernen neuer Themen auftreten, korrigieren zu können. Wie die folgende Geschichte zeigt, wird das oft unmöglich gemacht.

Erklären Sie uns doch mal die Digitalisierung

Der Mensch verstand wahrlich etwas von „Digitalisierung“, genauer gesagt von Artificial Intelligence, Robotik und IoT (Internet of Things). Ein großer Konzern hatte ihn für einen Einführungsvortrag engagiert, um die Manager aller Töchter und Ebenen auf Vordermann zu bringen. Drei Jahre sollte dieses Programm laufen, derselbe Vortrag jede Woche einmal vor einer weiteren Gruppe. Einen ganzen Seminartag hatte er ursprünglich vorgeschlagen. Zu teuer. Einen einzigen Vortrag hatte er dann angeboten, den man auf Video aufzeichnen und der Belegschaft im Web anbieten könnte. Nein. Seine Präsenz sei ebenso gefragt wie der Austausch der Mitarbeiter nach dem Vortrag.

180 Stunden für 90 Minuten

90 Minuten dauerte dieser Vortrag. 180 Stunden hatte er an ihm gearbeitet, bis seine Aussagen in einfachen, aber präzise gewähltem Worten formuliert und anschaulich genug illustriert und animiert waren. Ich hörte ihn mehrere Male ab dem zweiten Jahr. Er war ein Meisterwerk an Didaktik. Aber da war noch etwas. Dieser Mensch verschwand jedes Mal sofort nach seinem Auftritt. Erst beim dritten Mal fand ich heraus wohin. Er flüchtete auf eine abgelegene Dachterrasse, die selten jemand betrat. Ab dem vierten Mal ging ich ihm nach. Er stand dort kettenrauchend, mit einem Blick in die Weite, als spähte er in eine tiefe, tiefe Leere.

Sie verstehen mich nicht

„Sie verstehen mich nicht“, sagte er nach einer Weile spontan. „Sie verstehen mich nicht“, sagte er noch einmal, weil ich nicht sofort antwortete. „Ihre Teilnehmer kommen nicht mit? Meinen sie das?“, fragte ich ihn, zumal ich bis dahin noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt hatte. „Früher“, sprach er weiter, „habe ich nach meinen Vorträgen das Gespräch mit den Teilnehmern gesucht, um herauszufinden, wie ich mein Thema noch verständlicher machen könnte…“ „Was treibt sie heute auf die Terrasse?“, fragte ich ihn. „Sie kommen nicht mit, glauben aber, dass sie alles verstanden haben.“ „Oh je! Die einfachen Worte…“ „Ja. Sie meinen, weil sie die Worte verstehen, verstehen sie auch die damit getroffenen Aussagen.

Der Hörer, nicht der Sprecher einer Aussage…?

„Was ich gesagt habe, weiß ich erst, wenn ich die Antwort darauf kenne...“ „Denken Sie, Norbert Wiener hat das wörtlich so gemeint?“, fragte er. „Vermutlich hat er gemeint: Wie ich verstanden wurde, weiß ich erst, wenn ich die Rückmeldung dazu kenne.“ „Möchten sie wissen, welche Rückmeldungen ich bekomme?“ „Ja, gerne.“ „Kennen sie diese Feedbackbögen über Vortragende?“, fragte er. „Oh ja!“, lachte ich. „Sie beurteilen mein Entertainment.“ (Das war übrigens ziemlich gut.) „Den Inhalt können sie ja nicht beurteilen…“, wendete ich ein. „Nach dem Vortrag kam oft jemand mit der Behauptung auf mich zu, ich hätte im Vortrag dies und jenes gesagt. Dabei habe ich das gar nicht gesagt. Und ich bin sicher, dass ich es nicht gesagt habe, weil ich gar nicht auf solche Gedanken kommen könnte. Sie geben einem aber gar keine Chance, solche Missverständnisse zu klären! Nein, sie erklären einem sofort, wie man das richtig sehen muss!“ „Da wurde offenbar auch Heinz von Foersters ,der Hörer und nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage´ missverstanden.“ „Ja“, lachte er, „sie meinen offenbar: Der Hörer legt fest, was der Sprecher gesagt hat.“ „Da hört sich der Spaß am Vortragen auf …“

Rauchfrei

„Ab dem Tag bin ich begeisterter Nichtraucher, ab dem sie sagen: Was ich verstanden habe, weiß ich erst, wenn mir der Vortragende sagt, ob ich ihm richtig folgen konnte.“ „Vielleicht sollte man es einführen, die Teilnehmer nach solchen Vorträgen zu prüfen?“, witzelte ich nicht ganz ohne Ernst. „Ja, und die Feedbackbögen abschaffen. Ich glaube sie haben mich zum Kettenraucher gemacht…“ „Was sagt ihr Auftraggeber dazu?“ „Ihn interessieren nur die Feedbackbögen. Ob die Leute richtig verstehen, interessiert ihn gar nicht.“

Grausig

„Wie durch ein Wunder bin ich nicht verantwortlich für das, was sie von mir verstehen. Aber ich bin in jedem Fall verantwortlich für das, was ich sage… Maturana hat das am besten formuliert.“ Er lächelte. „Wäre schön, würde sich das herumsprechen.“ Ich lächelte auch. „Ist ein grausiger Gedanke.“ Ich unterbrach mich selbst, sprach ihn nicht aus. „Sie meinen, Leuten in 90 Minuten Artificial Intelligence, Robotik und IoT zu erklären, die von Kommunikation so gut wie nichts ahnen? Und schon gar nichts von Lernen und Erkenntnis?“ Aus seiner Stimme klang echter Schmerz. Das war zwar nicht mein Gedanke, ist aber auch einen Gedanken wert.

Die Angst des Experten vor dem Laien

„Populär aufbereitete Lehren produzieren vor allem Missverständnisse. Man sollte es tatsächlich nicht tun.“ „Zum Problem wird es ja erst, wenn man Missverständnisse nicht korrigieren darf, wie in ihrem Fall.“ „Dann muss man damit aufhören!“ Er dämpfte seine Zigarette aus: „Das war heute mein letzter Vortrag. Das hat keinen Sinn.“ Er nahm wieder eine Zigarette in die Hand, warf sie aber gleich in den Aschenbecher. „Es gibt nicht nur die Angst des Tormannes beim Elfmeter. Es gibt auch die Angst des Experten vor dem Laien.“ Er ist nicht der einzige Pionier, der diese Entscheidung getroffen hat. Dieses Gespräch ist eine Zusammenfassung vieler Gespräche mit hochkompetenten Leuten, die damit aufgehört haben, ihr Wissen in Umgebungen zu vermitteln, in denen sie durch ihre Teilnehmer benotet werden, aber ihre Teilnehmer nicht durch sie…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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