Wie führt man Menschen, die man nicht kennt?

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Management im Kopf: Folge 106. Komplexität und Menschenführung: Der Mensch - eine Black Box.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Wo beginnt eigentlich Menschenführung? Erst dort, wo über Angelegenheiten von Mitarbeitern entschieden wird? Überall dort, wo kooperativ Zwecke und Ziele verfolgt werden sollen? Oder schon dort, wo versucht wird, andere einfach nur zweck- und zielgerichtet zu beeinflussen? Setzt man Führung mit Steuerung und Regulierung im kybernetischen Sinne gleich, dann beginnt Menschenführung mit jeder Art der Einflussnahme auf andere. Auch etwa Werbung, Politik, Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus sind dann eine Frage der Menschenführung und vieles andere. Spätestens dann stellt sich die Frage: Wie führt man Menschen, die man nicht kennt?

Führen mit Macht?

Geht man davon aus, dass praktisch jeder Mensch jeden führt, auf den er Einfluss nimmt, rücken formelle Machtverhältnisse in den Hintergrund. Aus meiner Sicht hilft diese Sichtweise, denn mit dem Einsatz von Macht wäre Menschenführung – zumindest kurzsichtig gesehen – ziemlich einfach, wären da nicht viele Situationen, in denen man mit Macht allein gegen Wände rennt. Wir erleben es heute beispielsweise in den Schulen, dass Lehrer mit ihren formellen Sanktionsmöglichkeiten weder Schüler noch Eltern auch nur annähernd im Griff haben können. Wir kennen Regierungspolitiker, die gestern noch ganz oben waren und heute ganz unten sind. Wir kennen Vorstände, die wochenlang als Management-Stars durch die Gazetten gingen und dann plötzlich gehen mussten. Macht ist kein gutes Mittel, um Menschen zu führen. Aber sie hilft, klug eingesetzt, sie vor ihren eigenen Fehlern zu beschützen. Allerdings nur sofern man klüger ist als sie.

Wie gut kennt man Menschen?

Sind nur Politiker, Beamte, Vorstände von Großunternehmen, Werbespezialisten, PR-Leute und dergleichen davon betroffen, Menschen führen zu müssen, die sie nicht kennen? Diese Frage kann nur entstehen, wenn man annimmt, dass es Menschen gibt, die man kennt. Doch wie ist es etwa in Fällen, in denen man gestern noch ein Foto von sich und seinem/r Liebsten gepostet hat und heute die Message absetzen muss, dass man wieder Single ist? Wie ist es, wenn man darauf vertraut, dass einen der eigene Chef nie fallen lassen wird, und man plötzlich den Kündigungsbrief in der Hand hat? Wie ist es, wenn man sicher ist, dass man von einem langjährigen Stammkunden einen Auftrag bekommen wird, und dann mit einer Abfuhr nach Hause geht? Wie ist es, wenn man mit voller Überzeugung eine politische Partei gewählt hat, weil man ihren Vorsitzenden für ein Genie gehalten hat, von dem man schon wenige Tage nach der Wahl enttäuscht ist?

Wann kennt man Menschen?

Es ist schnell und leicht gesagt, jemanden zu kennen. Aber was sagt man damit? Dass man weiß, dass es ihn gibt? Dass man ihn selbst dann auf der Straße wiedererkennt, wenn man ihn dort nicht erwartet? Dass man irgendetwas über ihn erfahren hat, egal ob es stimmt oder nicht? Dass man weiß, wie man mit ihm gut klar- und auskommt? Dass man seine Anliegen und Probleme verstehen und ihm helfen kann? Dass man mit hoher Gewissheit vorhersagen kann, wie er sich verhalten wird? Dass man auch mit hoher Gewissheit vorhersagen kann, wie er sich verhalten wird, wenn er sich an keine Regeln halten muss? Dass man seine Lebensgeschichte, -umstände, -weise und -ziele kennt? Dass man schon weiß, was er sagen wird, bevor er es gesagt hat? Dass man ihn heilen kann, wenn er schwer krank ist?

Kennen Sie das Meer?

Der Mensch ist ein komplexes dynamisches System aus vielen komplexen dynamischen Systemen. Leben kann er nur in Austauschbeziehungen, die er mit seiner Umwelt aufrechterhält. Genauso ist es mit den Organsystemen, die in ihm stecken. Der Preis jeder Form von Austausch ist Veränderung. Solange man lebt, solange verändert man sich ununterbrochen. Kein Mensch bleibt eine Sekunde so wie er gerade noch war. Man kann daher weder sich selbst noch andere kennen, man kann sich und andere nur ununterbrochen kennenlernen. Mit dem Menschen kennen ist es wie mit einem Meer. Niemand kann es allein schon in dem Sinne kennen, in dem man wissen kann, was in einem Meer wo ist. Man kann eine Idee von seiner Oberfläche haben, aber auch diese Oberfläche bleibt keine Sekunde gleich.

Undurchschaubar

Mit dem Charakteristikum der Komplexität meint man in den Systemwissenschaften, sehr kurz gesagt, dass die Dichte der tatsächlichen Veränderungen, die gerade passieren und der potentiellen, die in Zukunft passieren könnten, höher ist, als sie erfasst werden kann. Man kann daher nur Meinungen über Menschen haben, aber man kann sie nie durchschauen. Man kann Vermutungen über sie anstellen, aber man kann nie sicher wissen, ob sie auch tatsächlich zutreffen. Es kann sein, dass Meinungen und Vermutungen in Anbetracht der eintretenden Verhaltensweisen plausibel erscheinen, sie müssen dennoch nicht zugetroffen haben. Und was gestern noch richtig war, kann heute schon falsch sein. Allein schon aus diesem Grund hilft es, exakt formuliert zu fragen: Wie führt man Menschen, obwohl man sie nicht kennt?

Es ist nie nur der eine

Die Voraussetzung dafür, etwas über Menschen zu wissen, ist die Beziehung zu bzw. mit ihnen. Jede zwischenmenschliche Beziehung ist zumindest ein Gemisch aus einem selbst und von dem, was man vom anderen bislang mitbekommen hat. Ich habe zum Beispiel eine zugetane Beziehung zu Mozart. Er selbst hat aber nur seine Kompositionen in sie eingebracht. Schon deren Interpretation, Aufführung und mein Wissen über Mozart kommt von unzähligen anderen Leuten. Ich kenne also Mozart nicht, ich kenne nur meine Beziehung zu ihm, etwas von mir selbst. Was wir über andere zu wissen glauben und was wir über sie denken, handelt nur im Geringsten von den anderen. Es handelt vor allem immer von einem selbst. Was Karl über Rudi sagt, sagt mehr über Karl als über Rudi.

Das Gemeinsame der Menschen

Menschen auch nur in irgendeiner Weise zu kennen, bedeutet auf jeden Fall, etwas über sie zu wissen, was sie von allen anderen unterscheidet – ihr Aussehen zum Beispiel, ihre Stimme, ihre persönlichen Daten, ihre Geschichte. Doch solches Wissen hilft in der Regel nicht, um Menschen erfolgreich zu führen. Aber es hilft sehr, zu wissen, was alle Menschen gemeinsam haben, insbesondere dann, wenn man sehr große Gruppen, wenn nicht so genannte Massen führen muss. Meiner Erfahrung nach hilft es weit mehr, mit validen Modellen vom Menschen an sich vorzugehen als mit der Annahme, man könnte sie gut genug kennenlernen. Es hilft, im Wesentlichen zu verstehen, wie der Organismus eines gesunden Menschen funktioniert, welchen Einfluss er auf sein Verhalten hat, welche wesentlichen Veränderungen bei Erschöpfung, Krankheit oder Verletzungen auftreten. Besonders wertvoll ist aber ein ausreichend differenziertes Modell über angeborene menschliche Grundbedürfnisse, also über existenzielle Bedürfnisse, die alle Menschen aller Altersstufen auf der ganzen Welt haben.

Valide Modelle vom Menschen

Meiner Erfahrung nach hilft es schon nicht mehr (als Ausnahme gelten hier die Medizin und bestimmte andere Fachgebiete), unterschiedliche Modelle für Männer und Frauen zu verwenden. Es hilft hingegen sehr, zwischen Erwachsenen und Kindern, Gesunden und Kranken zu unterscheiden. In ein ausreichend differenziertes Modell menschlicher Grundbedürfnisse lassen sich alle Zustände und Verhaltensmuster, die Menschen aufweisen können, so sinnvoll zuordnen, dass klar wird, was notwendig ist, um sie erfolgreich führen zu können, um mit ihnen klarzukommen. Die legendäre und vielfach missverstandene Maslow-Pyramide reicht dafür nicht. Als deutlich besser erweisen sich schon die Menschenrechte, aber die beste Basis für ein solches Modell kommt aus dem Gesundheitswesen, genauer gesagt aus den Pflegewissenschaften.

Die Aktivitäten des täglichen Lebens

Im 20. Jahrhundert wurde im Rahmen der Pflegeforschung ein Modell entwickelt, dass mit Bezug auf alle Fragen der Gesundheit und Krankheit, Autonomie und Abhängigkeit, des Wohlbefindens und der Unannehmlichkeiten, Engpässe und Sättigung einen Ordnungs- und Orientierungsrahmen anbietet, der es leicht macht, zu erkennen, was Menschen in den jeweiligen Situationen brauchen, für sie beitragen wollen und können und worüber mit ihnen verhandelt werden muss. Im Gesundheitswesen kennt man dieses Modell unter dem Titel „die Aktivitäten des täglichen Lebens“ kurz ATL. Es begleitet mich seit rund dreißig Jahren.

Ein Modell der Lebens- und Menschenführung

Als ich die ATL zu studieren begonnen hatte, fand ich nur einen einzigen Kritikpunkt. Die Grundbedürfnisse waren als eine Art Hierarchie dargestellt, was aus der Sicht der Pflege und Medizin durchaus sinnvoll sein kann. Aber die Menschen selbst priorisieren die Bedeutung ihrer Grundbedürfnisse ziemlich individuell und auch situationsabhängig höchst unterschiedlich. Ich begann, dieses Modell über die Anforderungen im Gesundheitswesen hinaus auf die Fragen der Lebens- und Menschenführung an sich zu erweitern. Dazu habe ich mehrere Jahre habe ich fast alle Gespräche auf der Basis dieses erweiterten Modells geführt – ich nenne es GBS, Grundbedürfnissystem.

Erkennen, was sie brauchen

Die Gespräche, die auf meinem Modell der Grundbedürfnisse basierten, waren dergestalt, dass ich die Bedürfnisse, die meine Gesprächspartner selbst explizierten mit jenen in Zusammenhang brachte, die sie nur implizit äußerten. In diesen Gesprächen habe ich weit mehr als sonst aus Lebensgeschichten erfahren, was man zuvor „noch nie jemandem erzählt hat“. Absurderweise bekam ich auch viele Heiratsanträge von Männern, mit denen ich gerade mal zwei, drei Stunden gesprochen hatte. Absurd? Nein, die Heiratsanträge waren metaphorisch zu verstehen, als Signal, dass ‚mann‘ sich wohl fühlte. Es ist ja nicht so, dass es Menschen so wichtig ist, dass sie gut gekannt werden. Es ist ihnen wichtig, dass man ihre Anliegen versteht, dass man versteht, was sie brauchen. Das ist auch die Voraussetzung, um eine gute Kooperation mit ihnen erreichen und um sie führen zu können. Man muss also nicht die Menschen selbst kennen, sondern nur ihre Bedürfnisse, im Mindestens jene, die ihnen angeboren sind, die man ihnen nicht ausreden kann…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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