Wie gewinnt man echte Experten?

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Management im Kopf: Folge 107. Komplexität und Menschenführung: Oder wie man echte Experten zur Verzweiflung bringt.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

In den Führungsetagen herrscht allgemeine Verunsicherung. Wie soll das alles noch gehen? Je genauer man hinsieht, umso komplexer werden die Dinge, nichts mehr ist gewiss. Sie werden aber auch nicht einfacher, je weniger man an sie anstreift. Die meisten Probleme von heute verschwinden nicht mehr von selbst. Mit zu vielen Treibern sind sie vernetzt und zu wenige davon hat man in der eigenen Hand. Das mit dem Aussitzen geht sich auch nicht mehr aus. Kaum mehr etwas, in dem man nicht auf echte Experten angewiesen ist. Aber sie stürmen immer seltener mit Feuereifer daher. Bevor sie sich für irgendetwas entscheiden, „sehen sie sich das erst einmal genau an.“ Wie gewinnt man sie für eine Zusammenarbeit?

Verständigungsprobleme

Die Situation echter Experten sieht völlig anders aus. Sie haben die Ruhe in sich, weil sie wissen, womit sie es zu tun haben und wie es funktioniert. Das einzige, was sie unruhig macht, sind Leute, von denen sie nicht oder falsch verstanden werden. Oft fehlt ihren Gegenübern jegliche mentale und begriffliche Anschlussfähigkeit, vor allem auch das nötige Mindset, mit dem man auch mit Unbekanntem klarkommen kann. Echten Experten stellt es die Haare auf, wenn sie Antworten liefern sollen, wo es (noch) keine gibt und Sicherheiten, wo keine zu finden sind. Nicht selten müssen sie daher mehr Arbeit in die Verdeutlichung als in die Anwendung ihres Wissens stecken. Trotzdem kommt oft das Gegenteil von dem heraus, was sie gemeint hatten. Und es ist fast zur Regel geworden, dass sie dann von genau denen als Idioten hingestellt werden, die nicht in der Lage waren, ihre Beiträge sinngemäß aufzuschnappen.

Komplexitäts-Kompetenz

Erfahrene Experten wissen, dass sie produktiver sind, wenn sie sich eine Stunde lang im Park regenerieren, anstatt Gespräche mit Menschen zu führen, mit denen keine fruchtbare Verständigung möglich ist. Insbesondere Pioniere auf neuen Gebieten sehen sich sehr genau an, mit wem sie arbeiten. Ihnen ist oft für viel Lehrgeld klar geworden, wie kritisch es ist, wenn man Menschen mehr Realität zumutet als sie geistig verarbeiten und philosophisch verkraften können. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass echte Experten einen professionellen Zugang zu komplexen Verhältnissen und Dynamiken entwickelt haben. Solche ticken nach völlig anderen Regeln als einfache. Deshalb ticken auch echte Experten anders als einfach Tickende. Ein belastbares Grundverständnis von den Eigenschaften, Möglichkeiten und Potenzialen komplexer Systeme kann hier als eine wertvolle Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Verständigen mit echten Experten herhalten.

Horror-Kandidaten

Echte Experten meiden Poser, die in Gesprächen alle Kompetenz vortäuschen und nicht merken, welchen Stiefel sie daherreden. Sie wenden sich von Prüfern ab, die keine Ahnung haben, worum es geht, aber mit zusammengekniffenen Augen umso strenger alles anzweifeln, was Experten von sich geben. Sie ziehen sich von Eingebildeten schnell zurück, die sie wie Praktikanten behandeln, die „vielleicht“ eine Chance von ihnen bekommen, beweisen zu dürfen, ob sie etwas taugen, unentgeltlich natürlich. Sie schütteln in sekundenhafter Resignation den Kopf über Leute, denen sie gerade den Komplex eines Problems und seiner Lösung erläutert haben, die dann einzelne Aspekte herausgreifen und kritisieren, ohne den Gesamtzusammenhang zu sehen. Ihnen diesen pro Aspekt klarzumachen, würde nämlich bedeuten, das Ganze nochmal genau von vorne bis hinten durchzugehen und zwar mindestens zwei Semester lang.

Arroganz

Echte Experten ziert in der Regel eine gewisse Bescheidenheit, was nicht bedeutet, dass sie nicht wissen, was sie können. Sie wissen vor allem, dass ihre hohe Fachkompetenz allemal Verunsicherung, wenn nicht Neid hervorruft. Bei Leuten nämlich, die von ihren Beiträgen elementar abhängig sind, aber völlig blank darin, diese auch nur annähernd fundiert beurteilen zu können. Sie wissen, dass Verunsicherung nicht unbedingt Kooperationsbereitschaft mit sich bringt, sondern häufig auch Arroganz zur Folge hat. Jegliches Signal von Überlegenheit oder gar Hochmut würde die Situation nur verschärfen. Sie üben sich daher in Demut vor der hohen Gefahr, die von Dummheit ausgeht. Bescheidenheit tut beiden Seiten gut, zumal die Probleme, die wir heute noch haben, zweifellos mächtiger sind als wir als Einzelne.

Valium

Nicht unerwähnt bleiben hier soll die Gruppe der Pseudoexperten. Sie verstehen zwar nur wenig gut, aber gerade deshalb verstehen sich besonders gut mit Leuten, die von derselben Sache auch zu wenig Ahnung haben. Pseudoexperten wollen die wahren Probleme gar nicht finden und lösen. Sie sind in dieser Hinsicht weitaus bescheidener als echte Experten; sie geben sich damit zufrieden, gute Geschäfte zu machen. Dafür reicht es vielen Kunden gegenüber, nur von sich zu geben, was diese gerne hören oder bestätigt wissen möchten. Sie wirken wie Valium. Denn in ihrer eigenen Inkompetenz können sie ihren Kunden viel glaubhafter als echte Experten das Gefühl geben, dass sie sich doch noch auszukennen. Hier könnte die Entscheidung helfen, ob man lieber für seine Beruhigung oder eine nachhaltige Lösung bezahlen möchte, die zwar erst später beruhigt, dann aber weitaus mehr und länger.

Ungeduld

Das Blöde an der ganzen Sache ist, dass von beruhigendem Schulterklopfen nichts besser wird. Sie hat nicht nur den Preis mehr oder weniger hoher Gehälter oder Honorare. Sie hat vor allem den Preis des fatalen Zeit- und Chancenverlusts. Denn komplexe Probleme halten nicht still, bis sie endlich gelöst werden. Sie wuchern weiter und verbreiten wie bösartige Tumore „Metastasen“, die jedes System stürzen können. Früher oder später wird es unmöglich, sie zu lösen. Daher zeigen echte Experten oft Ungeduld. Sie kommt nicht daher, dass sie ihren Auftrag oder ihre Anstellung lieber heute als morgen haben wollen. Sie kommt daher, dass sie wissen, dass sie ein Problem heute noch lösen können, morgen aber vielleicht nicht mehr. Bevor man sich von ihnen unter Druck gesetzt fühlt, könnte man sie fragen, was und wieviel noch passieren darf, bevor die jeweilige Situation zu verfahren ist. Echte Experten können das ziemlich genau sagen.

Handlungsbedarf

Echte Experten haben keine Meinungen. Sie haben Diagnosen, die denselben Stellenwert haben wie Diagnosen in der Medizin. Dort beginnt das mit einer Verdachts- oder Vermutungsdiagnose, die dann mit entsprechenden Untersuchungen abgeklärt wird. Es zeigen sich auf allen Fachgebieten Situationen mit mehr oder weniger akutem Handlungsbedarf. Sprechen echte Experten von hohem Handlungsbedarf, wird es wenig helfen, wenn man etwa entgegnet, dass dafür aber noch gar kein Budget vorgesehen ist, oder dass im Moment eine andere Sache Vorrang hat, die zwar nicht so akut, aber einer höheren Instanz wichtiger ist. Damit nämlich wird nichts anderes nackt auf den Tisch gelegt als die eigene Führungsschwäche. Sie ist ein Alarmsignal für echte Experten, weil sie wissen, dass man mit Menschen, die eine solche Haltung mitbringen, nur verlieren kann.

Sicherheit

Angenommen, es ist geglückt, einen echten Experten für eine Zusammenarbeit zu gewinnen und es geht mit dem Problemlösen los. Dann geht man am besten davon aus, dass nur ein Bruchteil der Maßnahmen, die er vorschlägt, der Lösung der Aufgabe oder des Problems selbst dienen. Alle anderen, die er anregt, dienen ihrer Absicherung, dem Stabilisieren des Systems, zumal jede Veränderung Instabilität mit sich bringt. Das ist wie bei einer Operation in der Medizin: Einen Blinddarm entfernen, das könnte fast jeder, der nur einmal zugesehen hat. Ihn so zu entfernen, dass der Patient es auch überlebt, verlangt nach vielen exakt getakteten anspruchsvollen fachlichen Beiträgen und Maßnahmen von vielen Seiten. So ist das im Umgang mit allen komplexen Themen und Systemen. Will man Erfolgen nicht im Weg stehen, sorgt man dafür, dass diese Stabilisierungsaktivitäten geleistet werden und von allen Seiten das Nötige geliefert wird.

Wozu soll das gut sein?

Ja, wir wissen es. Mitarbeiter wollen den Sinn verstehen, ja den Zweck und das Ziel ihrer Aufträge und Aufgaben. Nun kommt es im Zuge von fundierter Expertenarbeit, die noch dazu schnell genug abgewickelt werden muss, oft dazu, dass die Zeit und geistige Voraussetzungen fehlen, um sie in die relevanten Zusammenhänge soweit einzuweihen, dass sie sich wieder voll als Herr ihrer Lage sehen. Da hilft nur eine goldene Regel: Es führt immer der, der am meisten von der Sache bzw. Situation versteht, in diesem Fall eben der Experte. Wenn es schnell gehen muss, erklärt man Mitarbeiter und Kollegen besser, dass sie selbst Experten sein müssten, um diesen Experten zu verstehen und hält sie dazu an, anstatt der Sinnfrage die Frage zu stellen: Was müsste ich tun, um es sicher falsch zu machen? Das nämlich gibt dem Experten die Möglichkeit, rasch zu erklären, was gebraucht wird und weshalb, ohne sich für sein Vorgehen rechtfertigen zu müssen. Eine echte Expertenstellung und die Rechtfertigung für das Vorgehen eines Experten sind nämlich dasselbe.

Nervensache | Informationssache

Gekonnte Expertenarbeit an komplexen Verhältnissen ist vor allem eine Nerven- und Informationssache. Nervenarbeit insofern, als sie einerseits gut geschulte und vernetzte Neuronen braucht und andererseits hohe Aufmerksamkeit, Konzentration und Lernfähigkeit. Denn echte Experten arbeiten nicht nur mit dem Wissen, das sie gelernt haben. Sie arbeiten mindestens so sehr mit dem Wissen und den Informationen, die gegenwärtig vorherrschen und entstehen. Am besten sorgt man dafür, dass sie möglichst rasch möglichst viel aktuelle Information bekommen. Keine Sorge, sie geraten nicht so schnell unter Overload. Sie sind es gewohnt, hohe Informationsdichten rasch aufzunehmen. Nur wenn man sein Geld beim Fenster hinauswerfen möchte, gaukelt man ihnen etwas vor, lügt man sie an oder lässt man sie dumm sterben. Was dann aber nicht bedeutet, dass man dadurch selber klüger und erfolgreicher überleben wird…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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