Wie dumm sind die anderen?

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Management im Kopf: Folge 109. Komplexität und Menschenführung: Eine Strategie für das Nutzen von Chancen.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

„Man muss die Menschen nicht für dümmer halten als sich selbst!“ Dieser Satz ist für die heutige Zeit besonders wichtig, er stammt von Maxim Gorki. Erfolgreiche Strategen kennen ihn in vielen anderen Varianten, die teils weit älter als diese Formulierung sind. Ich habe sie gewählt, weil Gorki schrieb „man muss die Menschen nicht für dümmer halten …“ Denn besonders in der Massenkommunikation, in vielen Medien, in der Werbung und in den Public Relations scheint man zu glauben, man müsse sich klüger als andere halten und nicht nur dort. Damit will ich nicht gesagt haben, dass man glauben soll, alle anderen Menschen seien klüger als man selbst. Damit will ich nur gesagt haben, dass man viele potenzielle Chancen abtötet, wenn man andere unterschätzt. Und zwar aus folgenden Gründen.

Allwissen

Kein Mensch kann alles wissen und verstehen. In der komplex-dynamischen Welt von heute schon gar nicht. Sie kennzeichnet sich dadurch, dass wir immer weniger sicher wissen können, während wir immer mehr erfahren, von dem wir nicht wissen können, ob es zutrifft oder nicht. Wer alle anderen für dümmer hält als sich selbst, fällt unter die Diagnose Narzissmus. Heute muss man kaum jemandem mehr erklären, was das bedeutet. Weil schon viele Menschen viele Probleme durch Narzissten hatten, wurde schon viel Hilfreiches über sie geschrieben. Viele Menschen haben das bereits gelesen. Sie haben gelernt, dass man sich auf Narzissten, wenn möglich, am besten erst gar nicht einlässt; oder sie wenigstens so schnell wie möglich aus seinem Leben verbannt. Narzissten bleiben früher oder später allein zurück. Sie sind von einer Realitätsblindheit geschlagen, die sich nur im seltensten Fall so weit abbauen lässt, dass sie mit ihrer Umgebung nachhaltig erfolgreich fertig werden können. Das macht viele fertig. Deshalb sind viele Menschen früher oder später fertig mit ihnen.

Besserwisser

Eine andere Kategorie sind die Besserwisser. Sie sprechen anderen Menschen deren Wissen nicht ab, aber ihr Ego braucht es, ihnen klarzumachen, dass sie vieles besser als diese wissen. Dass das unsympathisch rüberkommt, ist aber nur das geringere Übel. Großes Übel entsteht, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Besserwisser unter Führungskräften sind hier eine besondere Gefahr. Ein Beispiel: Ein Vorstand, bestehend aus einem Betriebswirten, einem Techniker und einem Juristen, alle auf ihrem Gebiet anerkannte Fachleute. Aber sie haben keine Ahnung von Massenkommunikation und Linguistik. Ein Slogan, der ihre Mitarbeiter für eine Sache mobilisieren soll, soll entschieden werden. Keiner der drei kann sich in deren Perspektive versetzen. Sie urteilen aus ihrer eigenen Sicht, mit theoretischen Argumenten, die für andere Kontexte passen, für den relevanten aber kontraproduktiv sind. Den vorsichtigen Hinweis der Experten, dass ein Köder dem Fisch schmecken müsse und nicht dem Angler, würgen sie mit strafenden Blicken ab. Entschieden wird ein Slogan, der dem Vorstand gefällt. Kaum ist er veröffentlicht, tritt die Wirkung zutage. „Für wie dumm halten die uns eigentlich?“, fragen sich viele Adressaten. Der Slogan wird zum Schuss ins eigene Knie.

Vorurteiler

Manche Menschen verwechseln die Realität mit dem, was sie über sie denken. Sie gehen gar nicht davon aus, dass sie von anderen etwas dazulernen könnten. Die Schienen, auf denen sie in ihrem Leben dahinfahren, sind aus stabilen Vorurteilen gebaut. Den Rest besorgen ihr Nervensystem und Gehirn. Die Wirklichkeit neigt dazu, sich mithilfe dieser Organe jeweils so zu zeigen, wie man über sie denkt, was man über sie glaubt. Oft haben „Vorurteiler“ deshalb größere Probleme, die nicht verschwinden, weil sie durch ihre Vorurteile blind für mögliche Lösungen sind. Ein Unternehmer, der schon lange nach innovativen Produktideen sucht, hält zum Beispiel alle Wissenschaftler für „Fachidioten, die keine Ahnung von der Praxis haben“. Mehrmals schon wurde ihm von einer Universität eine Kooperation angeboten, weil er die nötigen Strukturen für das Umsetzen eines ihrer Innovationskonzepte hätte. Er nahm sich keine Zeit „für diese Wissenschaftler“. Sein Mitbewerb schon. Beunruhigt hat ihn das aber erst viel zu spät. Hatte er vorher gefragt: „Was wollen die schon erreichen?“, musste er danach fragen: „Wie haben die das bloß erreicht?“

Misstrauische

Wer hat noch nie schlechte Erfahrungen gemacht? Gesundes Misstrauen ist im Leben angebracht. Aber was ist das? Ungesund ist es jedenfalls, allem, was nicht von einem selbst kommt, vorweg mit Misstrauen zu begegnen. Nicht nur Vertrauen, auch Misstrauen sollte sich ein jeder und alles zuerst einmal verdient haben. Wir leben in einer Welt rasanter Veränderungen. Viele Menschen setzen ihre volle Zeit dafür ein, Neues hervorzubringen, was in die neue Zeit passt. Sie stoßen aber auf viel zu viel Misstrauen. Auch Allem Neuen und Fremden per se mit Misstrauen zu begegnen, ist eine hochwirksame Methode, sich von wertvollen Hinweisen, Anregungen, Informationen und Chancen abzuschneiden. Denn nur die wenigsten fähigen Menschen eröffnen ihre Möglichkeiten Leuten, die ihnen mit Misstrauen begegnen. Je fähiger sie sind, umso zurückhaltender sind sie mit ihren Angeboten. Bevor sie schlecht geredet werden, verschweigen sie sie.

Kurzstrecken-Denker

Viele Themen und Aufgaben von heute bedürfen intensivster Befassung, sollen sie nachhaltig erfolgreich gelöst werden. Das ist ein Problem für Entscheider, die es nicht schaffen, komplexere Zusammenhänge konzentriert genug zu durchdenken. Kein Mensch ist dazu jederzeit in der Lage. Das braucht eine gute Verfassung und möglichst störungsfreie Umgebung. „Kurzstrecken-Denker“ können sich nie lange genug konzentrieren. Viele sind zwar an echten Lösungen interessiert und durchaus kooperationsbereit. Aber sie bleiben beim ersten für sie greifbaren Detail hängen. Spezialisten brauchen aber das nachhaltige Vertrauen ihrer Entscheider. Sie brauchen deren Einsicht in das, was sie vorhaben. Dazu müssen sie alles aufzeigen können, was für eine nachhaltig erfolgreiche Lösung integriert werden muss. Kurzstreckendenker haben dafür zu wenig Gehör. Sie verkrallen sich dermaßen in einen der ersten Punkte, dass es ihnen gar nicht mehr in den Sinn kommen kann, dass noch viele andere Punkte bedacht und integriert werden müssen. Ein einzelnes Detail hat aber in einem Gesamtgefüge häufig eine vollkommen andere Bedeutung und Wirkung als es unter isolierter Betrachtung erscheint. So werden aus guten Innovationsideen kleine unbedeutende Kleckse, die nie etwas einbringen.

Unterschätzer

Besonders in Verhandlungen über Ressourcen, Möglichkeiten oder andere Vorteile kann es höchst kritisch werden, wenn man Verhandlunspartner für dümmer hält als sich selbst. Schlaue Strategen stellen sich häufig dümmer als sie sind. Einerseits zwecks sozialer Verträglichkeit; sie vermeiden es, auf andere überheblich zu wirken. Andererseits, um herauszufinden, wie glaub- und vertrauenswürdig, klug, handlungs- und wirkmächtig ihre Gegenüber tatsächlich sind. Gute Strategen fragen viel. So lange sie aber kein belastbares Bild von ihrer Lage haben, geben sie eigene Gedanken nur gut überlegt und wohldosiert preis. Nur soweit, wie es ihr Gegenüber zum unbewussten Ausplaudern der eigenen Potenziale anregt. Solche Strategen reagieren auch auf Angriffe niemals aggressiv. Sie bleiben ruhig und gelassen. Obwohl sie Gelegenheit dazu hätten, schlagen sie nie zurück. Weil sie sich selbst niemals so verhalten würden, kommt das manchen Menschen dumm vor. Sie übersehen, dass sie es mit „Langstrecken-Denkern“ zu tun haben. Solche gehen aus Verhandlungen reich an wertvollen Informationen über ihre Verhandlungspartner weg. Während sie von ihrem Gegenüber ziemlich strategie- und tatenlos für dumm gehalten werden, wissen sie diese klug zu nutzen. Hat man versucht, ihnen übel mitzuspielen, warten sie am Fluss, bis die Leichen vorüberschwimmen. Sie kennen die langfristigen Folgen von Entscheidungen. Sie lachen so gut wie immer zuletzt.

Überschätzer

Eine völlig andere Gruppe sind hochrangige Experten. Viele von ihnen können sich gar nicht vorstellen, wie wenig so manche Menschen von ihrer Sache verstehen. Sie gehen vielfach davon aus, dass das, was sie wissen, auch andere wissen. Sie halten also andere niemals für dümmer als sich selbst. Sie überschätzen andere. Daher halten sie es oft nicht für nötig, das eine oder andere Detail zu erklären. Auch das kann schief gehen. Deshalb halte ich Gorkis Formulierung „Man muss die Menschen nicht für dümmer halten als sich selbst!“ für besonders belastbar. So kann man auch sagen: „Man muss die Menschen nicht für so schlau oder schlauer halten als sich selbst!“ Viel mehr hilft es, jeweils herausfinden zu können, welcherart Geistesgröße man vor sich hat.

Das Geniale am Dummen

Hochrangige Experten haben den Vorteil, dass sie auch in den dümmsten Gedanken oft noch etwas Geniales entdecken können, das sie zu guten Ideen anregt. Laien in einer Sache neigen vielmehr dazu, auch im Genialsten nur Dummes zu sehen. Jeder von uns ist in den einen Dingen Spezialist und in anderen völlig unbedarft. Man muss die Menschen nicht für dümmer halten als sich selbst! Man muss sie auch nicht für so schlau wie oder schlauer halten als sich selbst! Es gibt auch die Wahl des goldenen Mittelwegs: Halte den anderen niemals für dümmer als dich selbst, bis er dich eines Besseren belehrt. Das schützt am besten davor, sich von eigenen Chancen schon abzuschneiden, bevor man sie erkannt und genutzt hat.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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