Die Sprache – ein Luder

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Management im Kopf: Folge 110. Komplexität und Menschenführung: Ein Plädoyer für professionelle Dolmetscher.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Einfache Probleme löst man im Vorbeigehen. Komplizierte Probleme verlangen viel Wissen, Können und Geduld. Durch Profis, vielfach auch durch gut gebaute Roboter und Künstliche Intelligenz, jedoch lösbar. Nur die komplexen Probleme zeigen dem Menschen seine Grenzen auf. Die Grenzen des Wahrnehmens, Erkennens, Beschreibens, Verstehens, Gestaltens und Handelns, der Kommunikation, Kooperation und Wirksamkeit. Innenminister Seehofer und Bundeskanzlerin Merkel führten es jüngst wieder beispielhaft vor: Da hilft alles Hauen und Stechen nichts und nicht alle Deeskalation. Es braucht das Zusammenhelfen vieler, anders wird das mit dem Lösen komplexer Probleme nichts. Dabei sprechen die beiden noch dieselbe Muttersprache. Muss man komplexe Probleme in Fremdsprachen lösen, bedeutet allein das oft bereits den Tod jedes Optimums, jeder Chance. Ein Plädoyer für den Einsatz professioneller Dolmetscher.

Babylon

Schon das Alte Testament berichtet, dass große Projekte an Sprachproblemen scheitern können. In Babylon wollte man Gott gleichkommen und einen Turm in den Himmel bauen. Aber Gott soll dieses Projekt gestoppt haben, indem er die Sprache der Babylonier verwirrte. Riesenchaos auf der Baustelle. Vielleicht sagte einer „Ziegel“ und ein anderer verstand „Tiegel“. Vielleicht sagte einer „binde die Leiter fest“ gesagt und ein anderer verstand „binde mich an der Leiter fest“. Neues braucht neue Worte, vielleicht entstanden zu viele Buzzwords. Vielleicht fand ein jeder für dasselbe andere Worte. Jedenfalls ist das mit dem Turm dann nichts geworden, obwohl viel Arbeit und Geld hineingesteckt worden war. Es braucht aber gar keinen Gott, um die Sprache der Menschen zu verwirren. Das können sie regelrecht perfekt auch selbst.

Komplex?

Heutzutage scheitern zum Beispiel Leute, die sich mit komplexen Systemen gut auskennen, daran, anderen zu helfen, weil das Wort „komplex“ höchst unterschiedlich verstanden werden kann. Die einen verstehen es als ein moderneres Wort für „kompliziert“, das mit einer Silbe weniger auskommt, um die Schwierigkeit einer Sache zum Ausdruck zu bringen. Andere wieder meinen, etwas Komplexes sei etwas Verflochtenes, Vernetztes oder Verknüpftes, das es zu entwirren gilt. Nur wenige bringen mit „Komplexität“ die systemwissenschaftliche Auffassung von den speziellen Eigenschaften komplexer Systeme in Verbindung, die anzeigen, mit welcher Vorstellung von komplexen Systemen man nachhaltig erfolgreich vorgehen kann.

Ein komplexes System: Die Sprache

Um eine hilfreiche Vorstellung von komplexen Systemen zu entwickeln, braucht man nur das Beispiel der Sprache heranzuziehen. Man blicke auf die Tastatur eines Computers und betrachte die leicht überschaubare Anzahl von Schrift- und Satzzeichen. Nun frage man sich: Wie viele verschiedene richtige und falsche Worte, wahre, falsche und gelogene Sätze und Texte können damit in wie vielen verschiedenen Sprachen potenziell gebildet werden? Wie viele verschiedene richtige und missverstandene Interpretationen können dadurch potenziell erzeugt werden? Mehr als man mit der besten Methode zählen, mehr als sich der Klügste vorstellen kann. Die Sprache an sich und Sprachen für sich sind komplexe Systeme. Sie erlauben es, unendlich viele Fehler zu machen. Nur wenige Gestaltungsvarianten entsprechen dem Regelwerk einer „richtigen Sprache“. So ist das mit allen komplexen Systemen: Sie bieten viel mehr Möglichkeiten für Fehler als für Passendes, Funktionierendes.

Sprachregelungen

In komplexen Systemen interagieren oft Komponenten miteinander, die selbst komplex sind. Zum Beispiel die Menschen in einem Team. Sie können schon in sich allein eine so hohe Variantenvielfalt an Verhaltensweisen hervorbringen wie beispielsweise die Sprache. Interagieren komplexe Elemente miteinander, kann daraus noch mehr Verhaltensvielfalt entstehen als jedes Teil für sich allein aufbringen kann. Komplexes zu klären und erklären verlangt daher zwangsläufig extrem feine Unterscheidungen, die nur mit höchst differenzierte Begriffen artikuliert werden können. Man muss sozusagen wie mit einem feinen Skalpell formulieren. Um sich rasch und sicher zu verständigen, brauchen ein  Sprecher/Autor und Hörer/Leser daher einen großen Wortschatz und verbindliche Definitionen der Begriffe, wie in Fachsprachen üblich.

Ein Wort sagt noch gar nichts

Das Wort „Selbstorganisation“ ist nur ein Beispiel dafür, dass Worte nur Platzhalter für Inhalte sind, aber nicht die Inhalte selbst. „Selbstorganisation“ kann vieles bedeuten: Die Organisation der eigenen Angelegenheiten, des eigenen Verhaltens. Oder die Organisation einer hierarchiefreien Zusammenarbeit. Oder die Selbststeuerung und Selbstregulierung eines Systems. Oder Emergenz, die Sinnvolles hervorbringt. Und so weiter. Wer sich öfter die Mühe gemacht hat, Begriffe in guten Lexika nachzuschlagen, weiß, dass man sicherheitshalber nachfragt, was mit einem Begriff jeweils gemeint ist. Wo man fürchten muss, dass einem deshalb mangelhafte Sprachkenntnisse nachgesagt werden, wird man dies aber tunlichst vermeiden. Das passiert dort, wo man sich über Sprache zu wenig oder die falschen Gedanken macht. Nämlich gar nicht selten.

Wie komplexe Systeme funktionieren

Die Kybernetik (eine strikt pragmatisch ausgerichtete Systemwissenschaft über komplexe Systeme, die Zwecke und Ziele verfolgen) zeigt nicht nur, wie auch die tollsten Erkenntnisse und Chancen an der Sprache scheitern können. Dieses Fach ist selbst ein Beispiel fataler Missverständnisse durch Sprachprobleme. 1948 bringt Norbert Wiener ein Buch heraus, mit dem Titel „CYBERNETICS“ und dem treffenden Untertitel „control and communication in the animal and the machine“. Es enthält u.a. die heute wichtigsten Erkenntnisse über die Funktionsprinzipien der Selbststeuerung und Selbstregulierung in komplexen Systemen und jene der Kommunikation. Hat man dieses Buch richtig verstanden, versteht zum Beispiel, weshalb sich Gesunde nicht darum kümmern müssen, dass ihr Herz schlägt, ihr Haar wächst, weshalb man krank werden kann,  in Betrieben oder Ländern ganz andere Dinge passieren als man verfolgte. Viel Gutes wie Schlechtes läuft quasi wie von selbst, genauer gesagt, aus kybernetischen Gründen, durch Emergenz. Und das nicht nur im menschlichen Organismus, sondern in allen komplexen Systemen. Man lernt hier das Wichtigste über die komplexe Welt verstehen.

Das Böse

Wiener gibt in seinem Buch Cybernetics viele wertvolle Hinweise, wie durch realitätsgerechte Vorstellungen des prinzipiellen Funktionierens von komplexen Systemen und der Kommunikation viel der bisher aufgewendeten Mühe unnötig wird. Aber das muss man sich erst einmal vorstellen können, dass alles viel einfacher sein könnte als man auch heutzutage noch glaubt. Die Begründer der Systemwissenschaften widerlegten das mechanistische Weltbild. Weil sich der Mensch von seinem (oft unbewussten) Weltbild nur ungerne trennt, wird schon allein der Untertitel des Buchs Cybernetics bis heute immer wieder missinterpretiert. Aus „control and communication in the animal and the machine“ wird flugs „control and communication of the animal and the machine“. Deshalb denken bis heute viele, die Kybernetik erkläre, wie man Lebewesen und Maschinen führt, beherrscht, wie man Macht über sie gewinnt, ausübt und behält. Allein schon darum hängt der Kybernetik bis heute ein Image des Bösen an. Selbstverständlich kann man auch die Kybernetik wie alles Wissen konstruktiv und destruktiv einsetzen. Verantwortlich dafür ist aber nicht das Wissen, sondern ihre Anwender.

Machtphantasien

1963 erschien das erwähnte Buch auf Deutsch, unter dem Titel: „Kybernetik – Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“. Bis heute trifft man im deutschsprachigen Raum noch immer viel eher auf die falsche Definition der Kybernetik als „Steuerung (oder Kontrolle) von Lebewesen und Maschinen“, obwohl die Kybernetik mit Machtphantasien nichts am Hut hat. Sie zeigt viel eher die unvermeidbare Ohnmacht gegenüber der Eigendynamik komplexer Systeme auf. „Control“ steht im Kontext der Kybernetik für Steuerung und Regulierung als die logische Einheit eines Regelkreises. Gemeint ist der Versuch einer Lösung (steuern), das Evaluieren eines Ergebnisses sowie die Korrektur eines misslungenen Versuchs (regulieren). Es geht um ein wirkungsorientiertes Vorgehen und Korrigieren von Fehlentwicklungen, um Wissen, das Unternehmen und der Welt von heute für wahr gut tun würde.

Rohe Spaghetti oder blonde Locken?

Selbst in Wikipedia findet sich heute noch in den ersten Sätzen über die Kybernetik: „… die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen …“ Selbst wenn weiter unten Wieners Buchtitel und die Bedeutung der Kybernetik als Wissenschaft korrekt wiedergegeben werden: Wer liest heute schon mehr als die ersten Sätze, wenn er rasch wissen möchte, was Kybernetik ist? So blieb es jüngst nahezu unwidersprochen, als ein prominenter deutscher TV-Philosoph mit längerem Haar die Machenschaften im Silicon Valley auf angewandte Kybernetik zurückführte. Google, Facebook, Amazon und Co haben mit angewandter Kybernetik so viel zu tun wie ungekochte Spaghetti mit den blonden Locken von Marylin Monroe. Übrigens: Sollte einer meiner LeserInnen kybernetisch organisierte Systeme programmieren können, bitte dringend bei mir melden!

Die Sprache – ein Luder

Kenner der Sprache ringen Tag für Tag mit ihr, allein schon mit ihrer Muttersprache. Noch schlimmer ist es in der Verständigung mit Fremdsprachen. Und am schlimmsten ist es, wenn sich viele in einer Fremdsprache über komplexe Probleme fachlicher Natur aus den unterschiedlichsten Gebieten verständigen müssen, im Management zum Beispiel. Wären die Probleme der Sprache nicht komplex, sondern nur kompliziert, hätten wir längst digitale Simultanübersetzer, auf die wir uns verlassen können. Aber die Sprache ist ein Luder. Wo immer komplexe Probleme unter Menschen mit verschiedenen Muttersprachen und Begriffen aus Fachgebieten gelöst werden sollen, die nicht die eigenen sind, investiert man am besten primär in professionelle Dolmetscher. In versierte Dolmetscher für Fach- und für Fremdsprachen. Denn das Klären komplexer Verhältnisse unter babylonischer Sprachverwirrung bedeutet nicht nur den Tod jedes Optimums, sondern oft, wie in Babylon, den Tod eines Projekts, und Minute für Minute den Tod vieler Chancen.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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