Wozu ist jemand, wozu ist etwas fähig?

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Management im Kopf: Folge 113. Komplexität meistern: Strategien und die zentrale Frage der Aufklärung.

Mit der Künstlichen Intelligenz und Robotik gewinnen Algorithmen an Prominenz. Solche Patentrezepte für das Lösen von Aufgaben und Problemen sind auch im Management höchst beliebt. Doch an komplexen Umständen scheitern sie. Sie zu meistern verlangt nach Strategien und Heuristiken, die quasi im Inkubator der Digitalen Ära zu finden sind: in den Originalquellen einiger Systemwissenschaften. Ab Folge 111 ihrer Kolumne stellt Maria Pruckner verlässliche Strategien und Heuristiken vor.

Wenn etwas komplex ist, kann es mehr Verschiedenes hervorbringen als man erfassen und sich vorstellen kann. Das ist, einfach gesagt, die systemwissenschaftliche Auffassung von Komplexität. Das Internet wäre dafür ein Beispiel, jeder Mensch aber auch, jedes Unternehmen, jeder Markt. Dabei hängt es nicht davon ab, wie viele Elemente ein System enthält. Entscheidend ist, was die Teile eines Systems durch ihr Zusammen- und Wechselwirken alles können. Komplexität hat mit den Fähigkeiten eines Systems zu tun, nicht, wie oft geglaubt wird, mit der Anzahl seiner Teile. Nicht von ungefähr ist daher ein zentraler Fokus für das Entwickeln jeder Strategie die Frage: Wozu ist jemand/etwas fähig? Sie macht es notwendig, Situationen und Systeme professionell zu beurteilen. Das ist, an einem prominenten Beispiel gezeigt, zwar oft nicht einfach, aber machbar.

Betrunken?

Kürzlich machte ein Video im Web die große Runde. Jean-Claude Juncker, am jüngsten Nato-Gipfel, auf instabilen Beinen. Interessant die Beschreibung seines Gangs in den Medien: wankend, torkelnd, schwankend, taumelnd. Ja, was nun? Wanken und schwanken kann man als Synonyme für das Faktum hinnehmen, dass Juncker tatsächlich auf unsicheren Beinen unterwegs war. Von einem Torkeln oder Taumeln kann, wenn man das Video betrachtet, keinesfalls die Rede sein. Junckers mehrmaliges kurzes Wanken hat sich sofort wieder stabilisiert, wenn auch teilweise mithilfe der Stütze einiger Politiker. Aber Rücktrittsaufforderung. Von – eh schon wissen. Weil – Behauptung – der EU-Kommissionspräsident sei betrunken gewesen.

Information

Was ich in diesem Video sehen konnte, war, dass Juncker mehrmals zuerst motorische Koordinations- und dann Gleichgewichtsprobleme hatte. Die er aber jeweils schnell regulieren konnte. Oliver Grimm fasst hier Erklärungen zusammen, die Juncker 2016 dazu selbst abgegeben hat: Der Präsident der EU-Kommission hatte 1989 einen schweren Autounfall. Zwei Wochen Koma. Ein halbes Jahr im Rollstuhl. Aber wie man sieht, hat er das Gehen, vermutlich mühsam, wieder erlernt. Zurückgeblieben ist jedoch eine irreparable Läsion eines Ischiasnervs. Eine wertvolle Information das, sie macht einen ziemlichen Unterschied. Wahr wird sie auch sein. So etwas behauptet man nicht so einfach. Zu leicht wäre er der Lüge zu überführen, wäre es nicht wahr. Das Hübsche am Ernsten: Man muss Jean-Claude Juncker gar nicht kennen, um sich anhand dieser Nachricht ein besseres Bild zu machen. Es genügt, wenn man sich mit dem Ischiasnerv, dem menschlichen Nervensystem und Organismus auskennt.

Ferndiagnosen

Gerade bei Lagebeurteilungen für Strategien sind wir vielfach auf Ferndiagnosen angewiesen, weil es unmöglich ist, sich vor Ort ein klares Bild zu machen – beim Mitbewerb zum Beispiel, oder bei den Kunden. Aber: Ferndiagnosen haben eine große Tücke in sich. Sie sind viel wahrscheinlicher falsch als richtig. Man darf sie bestenfalls als Vermutung anstellen, und wenn man das tut, muss man deren Zutreffen überprüfen. Das kann man aber oft nicht. Besser gedient ist dann mit: Wir wissen nicht, was Sache ist, wir haben zu wenig Information. Das hält aufmerksam für alle anderen Möglichkeiten, die der Komplexität halber ebenfalls zutreffen könnten.

Analogien

Nun ist es so, dass jeder in jedem Bein einen Ischias hat. Das ist ein Nervenstrang, über den der Organismus die Sensorik und Bewegung der Beine steuert und reguliert. So mancher hatte schon mal Probleme mit ihm. Aber sie müssen den Ischias-Attacken von Juncker nicht gleichen. Ischias-Läsionen durch eine Unfallverletzung können völlig andere Schwierigkeiten mit sich bringen, als der „Ischias“, der viele plagt. Eine genaue Diagnose wurde nicht geliefert. Schließlich gilt das Patientenrecht, dass die Diagnose eines Patienten nur ihn und seine medizinischen Betreuer etwas angeht. Wir haben also zu wenig Information. Auch sich zwecks Aufklärung einer Situation auf Analogien zu stützen, ist immer tückisch. Nur weil etwas bei A etwas so ist, muss es noch lange nicht bei B so sein. Der professionelle Stratege geht nie von sich aus. Er überlegt immer möglichst genau und vieles, wie anders als er andere dasselbe erleben, bewerten oder behandeln könnten.

Verhaltensvielfalt

Menschen mit starken Schmerzen können sich, weil sie komplexe Systeme sind, ziemlich unterschiedlich verhalten. Jammern, aber nichts dagegen tun. Sich sofort Hilfe verschaffen. In Schonung gehen. Die Zähne zusammenbeißen und weitermachen. Versuchen, sich nichts anmerken zu lassen und alle Nuancen dazwischen. Menschen mit chronischen Schmerzen reagieren nochmals anders. Viele haben gelernt, ihre Schmerzen zu ignorieren, ihre Aufmerksamkeit auf etwas Interessanteres umzulenken. Andere stehen unter starker Medikation mit allen bekannten Nebenwirkungen. Und so weiter. Ein bestimmtes Verhalten sagt daher noch lange nichts über eine bestimmte Ursache.

Diagnosen

In unserem Fall stand der Vorwurf (nicht der Verdacht) der Betrunkenheit im Raum. Mir fielen auf Anhieb mehr als eine Handvoll Krankheiten und temporäre organische Funktionsstörungen ein, die einen auf den ersten Blick wie betrunken aussehen(!) lassen, aber nichts mit Alkohol zu tun haben. Drehschwindelattacken, Herzrhythmusstörungen oder Hirntumore zum Beispiel. Wem wäre geholfen, gäben sich Ärzte mit der Fehldiagnose „besoffen“ zufrieden? Es hat gute Gründe, weshalb bei Verkehrskontrollen der Alko-Test positiv ausgefallen sein muss, bevor eine Strafe verhängt wird. In der seriösen Medizin gibt es keine Diagnose und Behandlung ohne sorgfältige Untersuchung. Dasselbe gilt für das professionelle Entwickeln von Strategien. Hier spricht man von Aufklärung, einer erforderlichen Sammlung relevanter Information zur Lagebeurteilung.

Unvollständige Information

Kehren wir zurück zu bewusstem Video. Roch Juncker nach Alkohol? Filme lassen einen nichts riechen. Wie hat Juncker gesprochen? Mit schwerer Zunge? Lallend? Konnte man nicht hören. Waren die Reaktionen von Juncker verlangsamt? Nein, im Gegenteil, seine Haltung hat sich nach kurzen Turbulenzen auffallend rasch stabilisiert. Ganz nebenbei ist es typisch für viele Alkoholiker, dass sie erst mit der erforderlichen Dosis Alkohol voll leistungsfähig sind, während sie verhaltensauffällig werden, wenn sie zu wenig getrunken haben. In komplexen Verhältnissen müssen wir immer trotz unvollständiger Informationen urteilen und entscheiden. Aber das bedeutet nicht, dass man sich mit ersten Eindrücken, Hinweisen und Meinungen zufriedengeben darf. Für jede professionelle strategische Lagebeurteilung gilt die Heuristik: Urteile und entscheide nie mit den Informationen, die du hast, sondern immer mit jenen, die mit bestem Wissen und Gewissen gewonnen werden können.

Medizin

Die beste faktische Information, auf die man sich für die Aufklärung dieses Falls stützen kann, ist das medizinische Wissen über den Ischiasnerv. Stellen Sie sich vor, er ist quasi die Telefonleitung für die wechselseitige Steuerung und Regulierung zwischen Gehirn und Bein. Hirn sagt Bein und Bein sagt Hirn, wo es langgeht. Hat diese „Telefonleitung“ eine Läsion, so etwas wie einen Wackelkontakt zum Beispiel oder zu starke Schwankungen in der Energieversorgung, kommt es in der Leitung quasi zu Funkstörungen. Bein und Gehirn bekommen für diese Momente nichts mit. Man spürt zum Beispiel sein Bein nicht mehr, weiß nicht mehr, wo es gerade ist und man kann es nicht mehr lenken. Das Hirn weiß nicht mehr was mit dem Bein ist, das Bein nicht mehr, wo es ist und hinsoll. Dadurch werden die Bewegungsabläufe betroffener Menschen instabil. Sie können dann wanken, aber auch stürzen, weil sie ihr Bein nicht fühlen. Ein typisches kybernetisches Problem.

Systemdiagnosen

Jede Situation, auch die von Jean-Claude Juncker damals, hängt in einem System. Für erfolgreiche Strategien muss man sich mit den relevanten Systemen sowohl auf Sach- als auch auf der Beziehungsebene sehr gut auskennen. Um der damit verbundenen Komplexität Herr zu werden, braucht man dafür geeignete Relevanzfilter. Das sind belastbare Erklärungsmodelle für komplexe Systeme an sich, wie sie zum Beispiel aus der Kybernetik kommen, und für die Elemente, aus denen sie gebildet werden, in unserem Fall aus der Medizin und aus Junckers Biografie. Ohne ausreichendes Wissen entstehen keine guten Strategien. Weil keiner unmöglich alles selber wissen kann, zieht man für eine solide Lagebeurteilung Experten hinzu, die tatsächlich welche sind. Dieser Akt der Aufklärung ist heute meist der Entscheidende.

Gerüchte und Lügen

Kein professioneller Stratege kann es sich erlauben, so zu tun, als gäbe es keine Gerüchte und Lügen. Im Gegenteil. Sie gehören zum strategischen Repertoire. Einerseits sind sie ein uraltes und durchaus probates, meist aber nur kurzfristig wirksames Mittel der Ablenkung oder Irreführung. Andererseits muss man sie erkennen und entlarven können. Das bedeutet aber nicht, dass gute Strategien auf Unwahrheiten aufbauen müssen. Das bedeutet nur: Wer keine besseren Ideen hat, kann nur noch zu Lügen und Gerüchten greifen. Häufig sind sie ein Indiz für Schwäche, bedeutsame Stärken stecken nur im seltenen Fall dahinter.

Aufklärung – das A&O der Komplexitätsbeherrschung

Wozu ist man selbst, das Gegenüber oder etwas fähig? Das ist die zentrale Frage für jede langfristig erfolgreiche Strategie. Ein Ischiasnerv zum Beispiel kann verdammt viel. Er verhilft uns nicht nur zum Gehen – weiß Gott wohin überall. Er kann auch arg wehtun. Und er kann uns zum Stürzen bringen. Ein übles Gerücht kann auch wehtun. Seinetwegen muss man aber noch lange nicht stürzen. Man kann es aufklären. Das ist, was ich Ihnen heute für heiße Tagen mitgeben möchte: Aus den unangenehmen Nebenwirkungen von komplexen Verhältnissen – Undurchschaubarkeit, Ungewissheit, Unvorhersagbarkeit und hohe Instabilität – ist nur eine logische Konsequenz zu ziehen: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Und zwar in jeder Hinsicht, auf jeder Ebene und in jedem Moment. Das ist die Kernbotschaft der Systemwissenschaften. Ich empfehle dazu auch die Festrede von Philipp Blom zur Eröffnung der heurigen Salzburger Festspiele.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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