Finde das wahre Problem

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Management im Kopf: Folge 115. Komplexität meistern: Strategien und die valide Lagebeurteilung.

Mit der Künstlichen Intelligenz und Robotik gewinnen Algorithmen an Prominenz. Solche Patentrezepte für das Lösen von Aufgaben und Problemen sind auch im Management höchst beliebt. Doch an komplexen Umständen scheitern sie. Sie zu meistern verlangt nach Strategien und Heuristiken, die quasi im Inkubator der Digitalen Ära zu finden sind: in den Originalquellen einiger Systemwissenschaften. Ab Folge 111 ihrer Kolumne stellt Maria Pruckner verlässliche Strategien und Heuristiken vor.

Neubauer machte seinen Mitarbeiter Konrad zur Schnecke. In aller Ruhe habe er ihn am Vortag in der Fußgängerzone flanieren gesehen, während dieser angeblich bei einem Kunden gewesen sei! Nicht einmal gegrüßt hätte er, obwohl sie eindeutig Blickkontakt gehabt hätten! Was er sich eigentlich einbilde?! Er sei am Vortag keinesfalls in der Fußgängerzone gewesen, verteidigte sich Konrad, sondern tatsächlich bei diesem Kunden. Jetzt auch noch zu lügen! Das sei wohl das Letzte! Er könne sofort seine Sachen packen! Konrad packte. Mit einer Hand. Mit der anderen rief er Konstantin an, seinen eineiigen Zwillingsbruder, der Konrad aufs Haar gleicht. Ja, Konstantin war zur angegebenen Zeit in der Fußgängerzone. Also begleitete er seinen Bruder zu seinem Ex-Chef. Schlüsselübergabe. Neubauer glotzte die beiden ungläubig an. Er hätte auch lachen können, und sich entschuldigen. Doch das tat er nicht. Konrad ging in die Offensive: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Neubauer. Nicht Sie haben mich gefeuert, weil Sie gestern meinen Bruder in der Fußgängerzone gesehen haben. Ich habe heute gekündigt. Wir sind einvernehmlich auseinandergegangen.“ Neubauer brachte nur ein Wort heraus: „Warum?“ „Weil Sie sich selbst viel zu viel und mir viel zu wenig vertrauen.“ Viele Situationen sehen auf den ersten Blick gleich aus, obwohl sie völlig unterschiedlich sind. Daran immer zu denken, ist Teil jeder guten Lagebeurteilung.

Die tatsächlichen Probleme

Eine vollständige Lagebeurteilung enthält nicht nur möglichst viele relevante Fakten und eine zutreffende Darstellung ihrer Zusammenhänge. Sie enthält auch eine Diagnose. Eine Diagnose beschreibt das tatsächliche Problem so präzise, dass es sich von allen anderen Problemen, die ebenfalls denkbar wären, unterscheidet. Erst eine genaue Diagnose macht klar, was eigentlich gelöst werden muss, ob es überhaupt gelöst werden kann und wie. Das macht Arbeit. Warum muss man sie machen? Weil beim Beurteilen komplexer Verhältnisse die potenzielle Täuschung per se eingebaut ist.

Entscheidende Unterschiede

Auch was oberflächlich viel gemeinsam hat, unterscheidet sich in wesentlichen Dingen. Oft zeigen sie sich nicht auf den ersten Blick. Vielfach liegen sie in Tiefenstrukturen versteckt, die man nur durch Wissen erkennen kann. Neubauer aus der obigen Geschichte hätte die Möglichkeit einer Verwechslung in Betracht ziehen müssen. Dann hätte er erfahren können, dass Konrad einen eineiigen Zwillingsbruder hat. Vielleicht auch, dass Konstantin nicht wie Konrad Bautechniker, sondern Zahnarzt ist. Auch das macht einen ziemlichen Unterschied. Obwohl, beide müssen sich mit Zement auskennen. Aber wenn auch der Zement in der Zahnmedizin vom Prinzip her dasselbe macht wie der am Bau, fängt ein Zahnarzt mit ihm doch ziemlich anders an. Konrad würde stümpern, würde er Konstantin in seiner Praxis vertreten und umgekehrt.

Man erkennt zuerst nur, was man schon kennt

Neubauer hatte ein theoretisches Modell davon im Kopf, wer jemand ist, der wie Konrad aussieht. Nämlich Konrad. Dass es auch andere Männer geben könnte, die genauso wie Konrad aussehen, war nicht in seinem Kopf. Das Gehirn erkennt spontan immer nur das, was es bereits kennt. Es ordnet neue Signale jenen Erkenntnissen zu, die es sich bereits angeeignet hat. Das ist das Prinzip der Mustererkennung. Wie weit die eigene Wahrnehmung und Meinung mit den Tatsachen übereinstimmt, hängt nur davon ab, welche Erklärungsmodelle man mit sich im Kopf herumträgt oder in einer künstlichen Intelligenz angelegt sind. Das ist die Bildungsfrage. Die Mustererkennung, man nennt sie auch Intuition, ist in der menschlichen Intelligenz genauso fehleranfällig wie in der künstlichen. Es ist gut, dass wir unsere Intuition haben. Ob sie mit der Realität übereinstimmt muss man dennoch in jedem Fall prüfen.

Theorie filtert Praxis

Man kann mit einem theoretischen Modell von etwas durch die Welt gehen, und sich anhand dieser Vorstellung seine Wirklichkeit herausfiltern. Ein Personalmanager hat zum Beispiel im Kopf, dass Schwangere auffällige Pigmentflecke im Gesicht haben. Bewerberinnen mit solchen Hauterscheinungen haben bei ihm daher keine Chance. Dass sie nicht nur bei Schwangeren auftreten, sondern auch durch Antibabypillen und andere Faktoren, wusste er nicht. So ist ihm so manche bestqualifizierte Kandidatin durch die Lappen gegangen, die sorgfältig verhütet hat. Und wie war das bei stark geschminkten Kandidatinnen? Der Personalist ist auf ihren sauber wirkenden Teint schlicht und ergreifend hereingefallen. Nicht nur viele Damen tragen Masken. Vieles im Leben zeigt sich verfremdet. Das muss man immer bedenken.

Praxis filtert Theorie

Die andere Strategie ist, sich von Situationen unvoreingenommen ein Bild zu machen und erst für dieses Bild eine passende Theorie zu suchen. Georg, Reporter eines Wochenmagazins, gerät so gut wie sicher zwei Stunden vor jedem Reaktionsschluss mit seinem Chefredakteur in Clinch. Das Veröffentlichen seiner Beiträge stresse ihn so stark, meinten Kollegen. Der Chefredakteur hatte dazu noch keine Meinung, aber eine Idee. Vor dem nächsten Redaktionsschluss versperrte er die Glastüre seines Büros. Pünktlich auf die Minute trommelte Georg laut fluchend dagegen. Sein Chef hob ein Plakat mit den Worten hoch: „Was brauchst du von mir, um dich zu beruhigen?“ Georg starrte kurz verdutzt, rannte zu seinem Tisch und kam mit einem Blatt zurück, auf dem stand: „Einen Burger, Pommes und eine Cola!!!“ Erst durch die Frage seines Chefs hatte er selbst erkannt, dass ihn sein Hunger so aggressiv machte. Vor Redaktionsschluss fand er nie Zeit für ein Mittagessen. Seit er sich Essen bringen lässt, dreht er nicht mehr durch. Das war knapp. Einen Reporter, der Angst hat, seine Beiträge zu veröffentlichen, könnte sich keine Redaktion auf Dauer leisten…

Soll und Ist

Eine grundlegende Voraussetzung für das zutreffende Beurteilen einer Situation ist eine realistische Vorstellung von einem erwünschten Soll-Zustand und eine klare Beurteilung des jeweiligen Ist-Zustands. Beides ist relativ einfach zu generieren, wenn man sich an verlässlichem(!) Fachwissen orientiert. Oft sind es persönliche und/oder wirtschaftliche Interessen, die dazu verleiten, die Ergebnisse einer fachgerechten Beurteilung zu ignorieren, abzulehnen, zu entwerten oder dergleichen. Dadurch kann man Situationen nur kurzfristig zu seinem eigenen Vorteil verändern. Später erweist sich das meist als Nachteil.

Traum und Wirklichkeit

In der Medizin kennt man das Problem schon lange. In der Wirtschaft ist es vielfach noch nicht bewusst. Das Gehirn ist ein Meister darin, unangenehme Tatsachen nicht ins Bewusstsein zu lassen. Es gibt Menschen, deren schwere Krankheit für Fachleute augenscheinlich ist, die sich trotzdem fest überzeugt als gesund betrachten: „Ich habe nichts, lassen Sie mich in Ruhe!“ In der Wirtschaft klingt das etwa wie: „Wir sind super aufgestellt und unterwegs!“ Es gibt nur einen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit: Jeder Traum ist irgendwann vorbei. Wenn man vor etwas Angst hatte, das nur auf einer Täuschung beruhte, mag das Erwachen eine Erlösung sein. Aber es ist eine Enttäuschung, wenn man an etwas Positives geglaubt hat, was nicht der Fall war. Wozu leiden?

Kann das überhaupt so sein?

Komplexe Verhältnisse machen es einem nie leicht, die relevanten Fakten zu finden, aus ihnen die zutreffenden Erkenntnisse und die besten Konsequenzen zu ziehen. Macht man es sich leichter als es ist, vergibt man damit viele Chancen, und man geht unnötige Risiken ein, ohne es zu wissen. Es gibt in allen komplexen Verhältnissen Muster, die gesetzmäßig auftreten. Man findet sie immer und überall. Wir kennen sie dank der Systemwissenschaften. Sie beschreiben die gesetzmäßigen Funktionsweisen komplexer Systeme. Vieles darüber finden Sie in dieser Kolumne. Mit der Hilfe von validem (!) systemwissenschaftlichen Wissen kann man die Plausibilität und Wahrscheinlichkeit von Erklärungen für Situationen rasch und effektiv prüfen.

Da ist etwas…

Anstatt sich spontan eine unreflektierte Meinung zu bilden, an der man vielleicht auch noch verbissen festhält, weil man sich einbildet, dass die eigene Wahrnehmung die Realität ist, kann man sich sagen: Da ist etwas, das sieht aus wie X. Was könnte sonst noch so aussehen? Wie finde ich heraus, was es tatsächlich ist? Das ist das Abklären einer Differentialdiagnose. Herr Neubauer hätte auf den Herrn, der so aussah wie Konrad, aber Konstantin war, einfach so reagieren können. Da ist jemand, der aussieht wie Konrad. Aber ist er es tatsächlich? Er dürfte jetzt gar nicht hier sein. Wer könnte das sonst noch sein? Er hätte auf Konstantin zugehen können und ihn fragen: „Konrad…???“ Konstantin hätte dann antworten können: „Nein, ich bin Konstantin. Aber ich habe einen Zwillingsbruder, der Konrad heißt und genauso aussieht wie ich.“

Willst du erkennen…

„Willst Du erkennen, so musst Du handeln“. Diese Heuristik von Heinz von Foerster weist darauf hin, dass sich komplexe Situationen nie allein nur durch ein Denken richtig verstehen lassen. Man muss mit den Systemen, mit denen man zu tun hat, interagieren, beobachten, wie sie auf welche Inputs reagieren und daraus kompetente Schlüsse ziehen. Nur so erfährt man mehr darüber, womit man es genau zu tun hat.

Die Täuschungsanfälligkeit ernstnehmen

Um auf Dauer ernst genommen zu werden, muss man sich primär selbst ernstnehmen können. Das beginnt am besten damit, das Täuschungspotenzial, das in jedem menschlichen Gehirn steckt, ernst zu nehmen. Erst wenn man seine eigenen Wahrnehmungen und Meinungen als prinzipiell mögliche Täuschungen betrachtet, wird man gewillt sein, sich die Arbeit zu machen, der Realität auf die Spur zu kommen. Sie ist nämlich immer so stark geschminkt, wie viele Damen, die Pigmentflecken im Gesicht haben…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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