Blöde Kuh. Oder: Wozu Strategien gut sind

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Management im Kopf: Folge 116. Komplexität meistern: Die Funktion einer guten Strategie, einfach und metaphorisch erklärt.

Mit der Künstlichen Intelligenz und Robotik gewinnen Algorithmen an Prominenz. Solche Patentrezepte für das Lösen von Aufgaben und Problemen sind auch im Management höchst beliebt. Doch an komplexen Umständen scheitern sie. Sie zu meistern verlangt nach Strategien und Heuristiken, die quasi im Inkubator der Digitalen Ära zu finden sind: in den Originalquellen einiger Systemwissenschaften. Ab Folge 111 ihrer Kolumne stellt Maria Pruckner verlässliche Strategien und Heuristiken vor.

„Nun? Wie war es heute im Kindergarten, Sven?“, fragte Berger seinen Sohn. „Es war gar nicht gut heute, gar nicht gut…“, brummelte der Knirps. „Was war denn los?“ „Wir haben Blöde Kuh gespielt.“ „Ach, du meinst Blinde Kuh?!“ „Nein, Papa, Blöde Kuh.“ „Nein, nein Sven. Dieses Spiel heißt Blinde Kuh.“ „Papa…, denk genau nach! Eine Kuh mit verbundenen Augen ist nicht blind. Die ist nur blöd, weil sie nichts mehr sieht und kann.“ Berger erzählte diesen kurzen Dialog amüsiert seiner Frau. Wenn er genervt von der Arbeit heimkommt, fragt sie ihn seither: „Nun, mein Schatz? Habt ihr heute wieder Blöde Kuh gespielt?“ Und Berger nickt. Ein Beitrag über die grundlegende Funktion von Strategien für alle, die wie Sven nicht Blöde Kuh spielen wollen.

Komplexes meistern

Bevor man nach einer konkreten Strategie für eine konkrete Sache sucht, sollte man sich darüber im Klaren sein, wofür eine Strategie an und für sich gut ist. Denn erst dann können gute Strategien entstehen. Sie sind für Situationen da, in denen zwar entscheidende Informationen und notwendiges Wissen fehlen, man aber dennoch angestrebte Ergebnisse erreichen muss, soll oder will. Strategien dienen also dazu, komplexe und damit ungewisse und unvorhersehbare Situationen mit möglichst wenig Aufwand erfolgreich zu meistern.

Blinde Kuh

Nach einer guten Strategie verlangen erfolgshalber all jene Situationen, die man nicht mit vorgefertigten Handlungsvorschriften bewältigen kann. Solche funktionieren insbesondere für komplexe Situationen nicht. Fehlt dann eine gute Strategie, gerät man in exakt jene Situation, die man vom Kinderspiel Blinde Kuh kennt. Man irrt herum, erlebt dabei alle möglichen Eindrücke und Irritationen, die jedoch keinerlei sichere Orientierung geben. Man ist auf Trial-and-Error angewiesen, auf Glück, der Error wird zur Regel. Mit der zunehmenden Komplexität und Dynamik sind solche schwierigen Umstände heute omnipräsent. Gute Strategien als bestes Mittel der Wahl haben sich noch nicht eingebürgert. Weil das erfolgreiche Anpassen an die neue Zeit vielfach noch nicht gut gelingt, häufen sich psychische Gesundheitsprobleme rasant. Dauernd Blinde Kuh spielen zermürbt nun einmal. Die Frage ist, ob Sven recht hat, wenn er das Spiel Blöde Kuh nennt.

Blinde Kuh an langer Leine

Metaphorisch erklärt, kann man sich die Funktion einer guten Strategie wie folgt vorstellen: Wähnen Sie sich in einer Landschaft, in der man Ihnen die Augen verbunden hat. Als Ziel gibt man Ihnen einen bestimmten Turm vor, den Sie ohne Ihr Sehvermögen erreichen müssen. An diesem Turm ist das eine Ende einer langen Leine festgebunden, das andere Ende bindet man um Ihre Mitte. Die Länge der Leine bestimmt den Radius, in dem Sie sich bewegen dürfen. Sie können die Leine mit Ihren Händen fassen und sich an ihr zu Ihrem Ziel entlangziehen. Unterwegs stoßen Sie allerdings immer wieder auf Hindernisse, die Ihnen den eingeschlagenen Weg verstellen. Dann müssen Sie einen anderen Pfad suchen. Die Leine hilft ihnen dabei, dass Sie dabei die Zone, in der Sie Ihr Ziel erreichen können, nicht verlassen. Sie gibt Ihnen auch eine gewisse Orientierung, wie weit Sie sich bereits an Ihr Zeil angenähert haben. Diese Leine steht hier die Funktion einer guten Strategie. Sie zeigt keinen bestimmten Pfad. Sie zeigt nur den Spielraum an, in dem sich die Erfolgspotenziale befinden.

Blinde Kuh im Leben

Im echten Leben sind wir im Grunde alle wie im Spiel Blinde Kuh unterwegs. Schlicht und einfach, weil unsere Sinnesorgane, unser Nervensystem und Gehirn so funktionieren, dass wir von außen gar keine Informationen bekommen können. Unser Körper nimmt von außen gar keine Impulse auf. Was von außen kommt, regt unsere Nerven bestenfalls nur dazu an, eigene Impulse an unser eigenes Gehirn abzustoßen. Die meisten Impulse in unserer Umgebung prallen einfach an uns ab. Das ist auch gut so. Würden wir alles mitbekommen, was tatsächlich ist, würde das unser Gehirn nicht verkraften. Wir gewinnen also nur Eindrücke, aus denen wir bestenfalls lernen aber nie sicher wissen können, was sie tatsächlich zu bedeuten haben. Das macht aber gar nichts, solange man erkennt, dass man von seiner Umgebung nie genug erkennt. Man muss einfach nur erkennen, dass das, was man zu erkennen glaubt, nur vom eigenen Gehirn konstruiert wird. Sobald man das erkannt hat, wird man sich dafür interessieren, mit welchen Strategien und Heuristiken man in seiner Umgebung trotzdem zielführende Orientierung gewinnen kann. Es gibt mehr als genug Wissen darüber.

Blöde Kuh im Leben

Das Spiel Blinde Kuh erlaubt bereits Kindern die fundamentale Selbsterfahrung mit dem Phänomen der Selbstreferenzialität oder Selbstbezüglichkeit. Es tritt auf, wenn die eigene Erkenntnis nur mit eigenen Erkenntnissen befruchtet, wenn also nichts Neues über die Umgebung dazu gelernt wird. Selbstbezüglich lernen bedeutet, nur von sich selbst zu lernen. Das kann sich auf Einzelne beziehen, aber auch auf Gruppen, wenn nur mit dem Denken und Wissen aus dieser Gruppe agiert wird. Hier spricht man heute von Echoräumen. In Internetforen und Social Media Plattformen lassen sie sich perfekt beobachten. Diese Selbstreferenzialität sprach der kleine Sven an mit: „Wir haben Blöde Kuh gespielt.“ Dieses Spiel entsteht, wenn man wichtige Signale aus der Umgebung absichtlich ausblendet. In Echoräumen erkennt man nicht, dass man die Vorgänge im eigenen Gehirn bzw. in der eigenen Gruppe mit denen in der relevanten Umgebung verwechselt. Die Blinde Kuh weiß quasi, dass sie nichts erkennen kann. Die Blöde Kuh entscheidet sich dafür, nichts erkennen zu wollen/können.

Wie eine gute Strategie entsteht

Wie entsteht nun eine gute Strategie? Ich vergleiche sie hier wieder mit einer langen Leine. Eine ihrer beiden Hauptkomponenten ist eine sorgfältig ausgesponnene Lagebeurteilung („spinnen“ im Sinne des Herstellens von Fäden, dazu erst später mehr). Mit den Ergebnissen der Lagebeurteilung grenzt man die Zone (= das System) ein, in der man Erstrebenswertes erreichen kann. So blendet man den irrelevanten Anteil an Komplexität aus. Als zweite Komponente muss man herausfinden, was auf längere Sicht am erstrebenswertesten ist (= das Ziel). Weil viele Ziele nicht wie Städte irgendwo festsitzen, sondern sich mehr oder weniger rasch bewegen, muss eine Leine (= Strategie) so angelegt sein, dass man das Ziel tatsächlich verfolgen und erreichen kann. Das kennt man zum Beispiel von Wachhunden, die vor einem Haus angeleint sind. Wäre ein Hund so angebunden, dass er Türen und Fenster nicht verteidigen kann, wäre das unwirksam. Ohne Leine würden auch die Hunde nach Lust und Laune herumlaufen und Einbrecher gut möglich ignorieren. Die Leine stellt den Kontakt mit dem Ziel sicher. Ohne festen Kontakt mit dem Ziel wird man zu leicht abgelenkt und verwirrt, man vergisst die eigenen Ziele.

Die Länge der langen Leine

Die Länge der Leine steht in einer Strategie für das günstigste Maß an Bewegungs- und Handlungsfreiheit. Ist sie zu lang, führt das auf unnötige Abwege und zu unnötigem Aufwand. Ist sie zu kurz, lässt sich das eine oder andere Hindernis nicht umgehen. Die Länge der Leine sorgt dafür, dass gefährliche oder unfruchtbare Zonen erst gar nicht aufgesucht werden. In diesem Sinne legt man mit einer guten Strategie mehr davon fest, was nicht passieren soll, als man festlegt, was genau wie vor sich zu gehen hat.

Weniger Freiheit – mehr Sicherheit

Mit einer guten Strategie wird also die unauflösbare Wechselwirkung zwischen Freiheit und Sicherheit so intelligent genutzt, dass der Freiheitsgrad für das Verhalten nur dort eingeschränkt wird, wo zu hohe Freiheit zu wenig Sicherheit bewirkt. Damit erst beginnt eine intelligente Kreativität, die zum Problemlösen geeignet ist. Weil für alle Situationen grundsätzlich unendlich viele Reaktionen möglich sind, sind für eine gute Strategie jene Reaktionen entscheidend, die tatsächlich und möglichst effektiv zum Ziel führen. Eine gute Strategie unterbindet Chaos und weist auch im Chaos noch den gangbaren Weg.

Woraus man strategische Leinen spinnt

Komplexe Situationen bzw. Systeme sind solche, die aufgrund ihrer Konfiguration und Funktionsweise mehr Verschiedenartiges tun können, als ein einzelnes menschliches Gehirn erfassen kann. Das ist, was komplexe Verhältnisse gesetzmäßig intransparent macht. Die Fäden, aus denen „strategische Leinen“ gesponnen und gedreht werden, entstehen aus den Antworten auf die wichtigste Frage für jede Lagebeurteilung: Weshalb verhält sich jemand/etwas, bei allen Möglichkeiten, wie es sich verhalten könnte, ausgerechnet so wie er/es sich verhält? Diese Frage führt dazu, Systeme professionell verstehen zu müssen – nämlich die Bau-, Funktions- und Evolutionsweise einer Einheit.

Eine nachhaltige Strategie für nachhaltige Strategien

Bei allen etwas unterschiedlichen Ansätzen, die auf dem Gebiet der Systemwissenschaften entstanden sind, gibt es einen Ansatz, der sich explizit auf strategische Aufgaben konzentriert hat. Hier handelt es sich um die Kybernetik, die Wissenschaft von komplexen Systemen, die Zwecke und Ziele verfolgen. Für die komplex-dynamischen Systeme von heute erweist sich bislang die Kybernetik als jene Strategie, die am besten hilft, nachhaltig wirksame Strategien für solche Verhältnisse zu entwickeln. Es ist quasi eine Strategie zweiter Ordnung, eine nachhaltig erfolgreiche Strategie für das Entwickeln von nachhaltig erfolgreichen Strategien.

Woran die Kybernetik scheitert?

Ich werde immer wieder gefragt, warum sich die Kybernetik noch immer nicht durchgesetzt hat. Wer sie erfolgreich nutzen will, muss sie zuerst einmal verstehen lernen. Dafür darf man nicht Blöde Kuh, dafür muss man Blinde Kuh spielen. Siehe oben. Dafür muss man sich von der Wissenschaft der Kybernetik an eine lange Leine nehmen lassen, die den Freiheitsgrad des eigenen Beobachtens und Denkens auf das einschränkt, was für die sichersten Pfade zum jeweiligen Ziel steht. Man muss sehen und einsehen lernen, was mit komplexen Systemen von Natur aus gesetzmäßig gelingt und misslingt. Dafür muss man die mechanistisch orientierten Erklärungsmodelle vergessen lernen, mit denen man aufgewachsen ist. Das fällt vielen, aber nicht allen zu schwer. Es ist also nicht so, dass sich die Kybernetik nicht durchsetzt. Sie erklärt Naturphänomene, die sich immer durchsetzen. Es ist nur so, dass sich kybernetische Denker oft noch nicht durchsetzen können, weil viele Menschen lieber Blöde Kuh spielen. Weil ihnen das nicht so anstrengend vorkommt. Und weil sie sich für die Probleme, die sie daraus erschaffen, nicht selbst verantwortlich sehen.

Eine Kuh übrigens

Ein guter Stratege, um auch noch der heute hier viel bemühten Kuh gerecht zu werden, weiß, was er mit einer Kuh anfangen kann und was nicht. Er wird von ihr nicht erwarten, dass sie eine andere Kuh bespringt und befruchtet. Er wird auch nicht glauben, dass er Kakao, Bananenmilch oder Erdbeereis aus ihr melken kann. Er wird auch daran denken, dass er sie gut füttern und pflegen muss, wenn er von ihr Milch und keine Huftritte haben will. Und eine Kuh übrigens, käme nie auf die Idee, sich die Augen zu verbinden, damit sie nichts sieht…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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