Sehen, was man nicht sieht

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Management im Kopf: Folge 119. Komplexität meistern: Strategie. Warum das Arbeiten ohne System-Modelle leidvolle Vergeudung ist.

Mit der Künstlichen Intelligenz und Robotik gewinnen Algorithmen an Prominenz. Solche Patentrezepte für das Lösen von Aufgaben und Problemen sind auch im Management höchst beliebt. Doch an komplexen Umständen scheitern sie. Sie zu meistern verlangt nach Strategien und Heuristiken, die quasi im Inkubator der Digitalen Ära zu finden sind: in den Originalquellen einiger Systemwissenschaften. Ab Folge 111 ihrer Kolumne stellt Maria Pruckner verlässliche Strategien und Heuristiken vor.

Gute Strategen glauben nichts. Sie wissen, was sie nicht wissen, nicht sicher wissen, was sie gar nicht wissen können, was man unmöglich jemals wissen wird und wie sie das jeweils Mögliche erfahren können. Ihnen ist klar: Was ihr Bewusstsein erreicht, entspringt vor allem ihrer eigenen Bildung, Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit. Drum lernen sie nicht nur von Leuten, die die Dinge ähnlich sehen wie sie, sondern auch von solchen, die diese anders sehen. Das bedeutet aber nicht, dass sie alles glauben, was Andersdenkende meinen. Sie prüfen unvoreingenommen mit geeigneten Methoden, welche Sicht der Realität am ehesten entspricht. Dafür schaffen sie Überblick. Heute über die beste und gleichzeitig unbekannteste Methode für das Meistern von Komplexem, anhand einer sehr verkürzten Geschichte der Kybernetik: Die System–Modellierung.

Lähmungen lösen

Es war einmal eine reiche Erbin in den USA. Kate Macy Ladd. Sie lebte von 1863 bis 1945 und litt lange an Lähmungserscheinungen. Kate musste weder an den besten Ärzten, noch an den teuersten Medikamenten sparen. Nach vielen Untersuchungen, Diagnosen und Therapien durch viele angesehene Mediziner blieb dennoch unerfindlich, woran sie litt. Keiner konnte eine Besserung, geschweige denn Heilung erzielen. Bis Ludwig Kast, ihr Leibarzt, auf die Idee kam, diese Aufgabe einer multidisziplinären Forschergruppe zu stellen. Denn 1930 hatte Kate mit der Macy Foundation eine Stiftung zur Förderung der medizinischen Forschung und besseren Gesundheitsversorgung gegründet, die damals von Ludwig Kast geleitet wurde.

Das Meistern von Komplexem – eine Strategie

Die von Dr. Kast eingesetzten Forscher fanden zusammen heraus, dass so etwas wie ein fehlender Neurotransmitter für die Lähmungen von Kate Macy Ladd verantwortlich war. Er konnte medikamentös zugeführt werden, die Lähmungen verschwanden. Aus Überzeugung und Dankbarkeit finanzierte die Macy–Stiftung in der Folge (u.a.) ein weiteres multidisziplinäres Forschungsprojekt. Aus diesem sollte eine Systemwissenschaft hervorgehen, die wir heute als Kybernetik kennen. Sehr einfach gesagt, ging es in diesem Forschungsprogramm um komplexe Probleme und Systeme, die mit dem Verfolgen von Zwecken und Zielen zu tun haben. Gesucht wurde nach einer Strategie, mit der man komplexe Probleme am besten lösen und komplexe Systeme am besten gestalten kann. Es ging unter anderem um die Frage, wie man verhindern kann, dass durch das Lösen eines Problems viele andere und allenfalls noch schlimmere erzeugt werden. Es ging um Nachhaltigkeit im umfassendsten Sinne und um den günstigsten Fortschritt für den Menschen.

Die fünf Grundfragen der Strategie

Die Forschungsfragen in den Systemwissenschaften unterscheiden sich von anderen Fachgebieten darin, dass hier nicht erforscht wird, was ein Phänomen ist. Hier wird erforscht, was es tut – in sich und in seiner Verbindung mit anderen Phänomen. Hier fragt man, was es tun könnte, weil es gebaut ist wie es gebaut ist und funktioniert wie es funktioniert. Hier konzentriert man sich nicht auf Sach- sondern auf Beziehungsfragen. Was passiert? Wie passiert es? Was kann alles passieren? Was soll passieren und was nicht? Wie soll es passieren? Das sind die fünf Grundfragen für das Entwickeln einer wirksamen Strategie. Die ersten drei Fragen konzentrieren sich auf die je aktuelle Lagebeurteilung, die beiden letzten auf das Entscheiden eines erfolgreichen Vorgehens.

Wenn alle scheitern…

Arbeiten viele unterschiedliche Fachleute zusammen statt isoliert am selben, kommt offenbar viel Besseres heraus. Das zeigte der Heilungserfolg bei Kate Macy Ladd. Doch Teams können auch scheitern. Denn das Lösen komplexer Probleme funktioniert nicht irgendwie, es verlangt bestimmte Voraussetzungen. Welche, hat man bei der Entwicklung der Kybernetik sorgfältig untersucht. Die Frage war: Wie können Viele, die Unterschiedliches wissen und denken, möglichst rasch voneinander über das gemeinsame Ganze lernen? Spricht man heute von Team- bzw. Organisation- oder Unternehmenskultur, so hat dies hier seinen Ursprung. Die Summe aller Wertvorstellungen sowie des Wissens, Denkens, Verhaltens in einer Gruppe mit allen Aus-, Wechsel-, Folge-, Neben-, Rück- und Fernwirkungen, führt je nach Gestalt zum Ge- oder Misslingen.

Wenn Zeit und Ressourcen knapp sind

Konflikte und Scheitern sind kostspielig. Wie verliert man beim Meistern komplexer Angelegenheiten weder Zeit noch wertvolle Ressourcen, etwa durch endlose verwirrende Diskussionen oder zu viele fruchtlose Experimente? Damals war schon klar: Komplexe Systeme funktionieren nicht durch Inputs von außen. Es kommt darauf an, durch welche Impulse aus ihrer Umgebung sie sich überhaupt anregen lassen, und wie sie diese aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit verarbeiten. Komplexe Systeme können also nicht von außen gesteuert und reguliert werden, sie steuern und regulieren sich selbst. Es sind eigen- oder autodynamisch getriebene Systeme, um nicht zu sagen, eigenwillige. Gab es in allen Funktions- und Wirkweisen von Systemen gemeinsame Gesetzmäßigkeiten? Man suchte und fand solche. Wir kennen sie als kybernetische Gesetze oder Designprinzipien. Von ihrer Bedeutung her ähneln sie den Naturgesetzen der Physik, erklären aber nicht die Dynamik von Gegenständen, sondern von Prozessen, die in allen Arten von Beziehungen vor sich gehen.

Das Hirn und das Komplexe

Wesentlich war bei der Entwicklung der Kybernetik auch die Frage, weshalb der Mensch auf komplexe Verhältnisse, für die er nicht gut genug ausgebildet ist, höchst irrational reagiert. Im multidisziplinären Team waren unter anderem Neurowissenschaftler, Psychologen und Psychiater. Sie konnten die Probleme durch Komplexität als Hirnprobleme aufzeigen: Zumal niemals alle Signale das Gehirn erreichen, die in seiner Umgebung auftreten, bekommt man niemals alles mit, was sich um einen herum abspielt. Man nimmt nur das wahr, worauf man achtet und was man darüber glaubt. Das Gehirn kann meisterhaft Muster und Regeln erkennen und lernen. Es entwickelt durch sein (Erfahrungs-)Lernen Erklärungsmodelle, mit deren Hilfe es aktuelle Beobachtungen als bereits Bekanntes wiedererkennt (Intuition), leider aber auch Neues mit Bekanntem verwechselt (Wahrnehmungsfehler). Im Erfassen und Erlernen von Details ist das Gehirn hingegen schwach.

Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

Da wir alle anhand unserer Modelle im Kopf nur Ausschnitte von der Realität mitbekommen, wäre es doch hilfreich, Modelle zu haben, die das tatsächliche Wirkgefüge eines komplexen Systems mit seinem Regelwerk abbilden. Die Begründer der Kybernetik suchten also quasi nach einer Landkarte von der Landschaft, in der sich eine Gruppe auskennen muss, um ihre Ziele zu erreichen. Die kybernetischen Modelle aus dieser Idee gleichen vom Prinzip her den medizinischen Modellen vom menschlichen Organismus. Sie sorgen dafür, dass man sich auch in der Black Box unter der sichtbaren Haut auskennt. Niemand, der sie verwenden gelernt hat, wird daher die Leber hinter dem linken Knie vermuten oder die Lunge für die Urinproduktion verantwortlich machen. So entstand quasi eine Anatomie und Physiologie von gesunden und eine Pathologie von kranken Systemen. Die Basis dafür war eine Grundstruktur, welche die entscheidenden Hauptteile von Systemen als Subeinheiten mit ihren Verbindungen darstellt. Die drei wichtigsten davon sind eine operative Einheit, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält, eine Umgebung, mit der sie in Austauschbeziehung und Wechselwirkung steht und der Komplex von Phänomenen, welche die Vorgänge in dieser Beziehung steuern und regulieren (korrigieren).

Cookies

Im Beitrag von vergangener Woche nannte ich Leute Cookies, die glauben, es gebe nur die Wirklichkeit, die sie wahrnehmen. Von Natur aus, d.h. ohne Bildung, müssten das zwangsläufig alle Menschen glauben. Doch viele wissen, dass dies nicht so ist. Nicht wenige vergessen es aber in der Hektik des Alltags oder Hitze eines Konflikts. In der Webtechnologie wiederum spricht man von Cookies, wenn es um Datensätze geht, in denen das Verhalten eines Surfers auf einer Website gespeichert und genutzt wird. Mit ihrer Hilfe kann man ihn u.a. Wiederkehrer identifizieren und ihm im vorauseilenden Gehorsam das anbieten, was er bei seinem letzten Besuch bevorzugt hat. Beide Konzepte weisen den Charakter von Selbstbezüglichkeit auf, d.h. die Beobachtungen des Beobachters haben nur mit ihm selbst zu tun. Er erfährt nur, was seinen Vorstellungen entspricht. Was er in seiner Umgebung noch nicht ergründet hat, bleibt ihm verborgen. Die Begründer der Kybernetik hatten daher eine viel bessere Cookie-Idee.

System–Modelle

Stellen wir uns die selektive Wahrnehmung vor wie das Ausstechen von Keksen aus einem Teig. Der Teig ist die Realität. Die Form zum Ausstechen entscheidet über den Wirklichkeitsausschnitt, den man wahrnimmt. Ist sie ein Herz, generiert man als Wirklichkeit ein Herz, ist sie ein Stern, einen Stern, usw. Der Gedanke der Kybernetik-Erfinder war sozusagen: Das Problem ist ja nicht, dass wir Kekse ausstechen. Das Problem ist, welche Form wir dafür verwenden. Ist das Problem ein Herz und wir verwenden eine Sternform, bekommen wir das Herz nie zu sehen. Sie schufen daher für die Wirklichkeitsausschnitte, die für erfolgreiche Strategien in komplexen Angelegenheiten entscheidend sind, „Keksformen“, mit denen man genau jene Ausschnitte der Realität erwischt, auf die es ankommt. Sie haben sie das Problem des Gehirns mit Komplexität genutzt, um es zu lösen. Genauso wie die Lähmungen von Kate Macy Ladd verschwanden, verschwinden damit auch die Lähmungen des Denkens in und zwischen den Köpfen, das auswuchernde Beschäftigen mit Scheinwirklichkeiten und das Ersticken der vorhandenen Intelligenz. Ohne professionelle System-Modelle zu arbeiten, erzeugt nur Leid und ist pure Vergeudung. Die Professoren Markus Schwaninger, Wolfgang Hofkirchner und Franz Josef Radermacher haben als meine Gäste hier bereits früher ihren großen Nutzen aufgezeigt. Wollen und/oder können Sie sich Leid und Vergeudung nicht leisten? Dann wird es höchste Zeit, sie sich nach den passenden Keksformen für ihre komplexen Themen umsehen.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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