Wir schaffen es nicht, die Nation abzuschaffen

Kosovo flag is being painted on girl´s face during celebrations of the 10th anniversary of Kosovo´s independence in Pristina
Kosovo flag is being painted on girl´s face during celebrations of the 10th anniversary of Kosovo´s independence in Pristina(c) REUTERS (Ognen Teofilovski)
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Robert Menasse hätte mit seinem verfälschten Politikerzitat nie einen solchen Wirbel verursacht, würde er damit nicht an eine offene Wunde rühren. Wie steht es also um Nationalstaat, Nationalismus und eine EU der Regionen?

So viel Aufregung um ein falsches Zitat eines fast vergessenen Politikers! Hätte ihm Robert Menasse einen etwas weniger provokanten Satz angedichtet: Wenige hätten es bemerkt, niemanden hätte es gestört. Aber dieser hier sorgt für Wirbel: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“ Das hat Walter Hallstein, der erste Kommissionspräsident der EU (die damals noch EWR hieß), zwar wie nun zugegeben nie so gesagt, soll es aber doch so gemeint haben. Die Dichter lügen zu viel, beklagte schon Platon. Aber der ideale Staat, aus dem der Philosoph sie deshalb verbannen will, gleicht einer Diktatur. Wir brauchen die Dichter, weil sie unserem Denken neue Horizonte eröffnen. Doch Menasse fabuliert nicht nur, er macht auch Politik, als Wanderprediger für eine europäische Republik der Regionen, und beruft sich dabei auf Hallstein als Säulenheiligen. Klar ist das eine Kampfansage an die Nationalisten, für die Europapolitik nur noch bedeutet, angebliche Interessen ihres Landes gegen Brüssel zu verteidigen. Was wiederum die visionären Europäer heftig schmerzt. Sie halten Nationalstaaten für Teufelszeug und wollen sie eilig entsorgen. Ihr Herold ist Menasse, er rührt an eine Wunde, die für beide Seiten offen ist. Wir sollten sie genauer untersuchen.

Arendts Warnung, Assmanns Lob

Auch wenn sich Menasse die Römische Rede Hallsteins von 1964 im „Spectrum“ vom Samstag mit viel Verve zurechtdeutet – der Satz des Anstoßes lässt sich aus ihr nicht destillieren. Hallstein sagte wörtlich: „Die bestehende politische Ordnung in Europa, die Ordnung der Nationalstaaten, soll nicht ausgelöscht und durch einen supranationalen Staat ersetzt werden.“ Tatsächlich zu entsorgen sei nur „die Idee, dass sich die Nation auf sich selbst stützt, auf ihre eigene Kraft“. Dieses „Konzept der nationalen Souveränität“ sei „in zwei fürchterlichen Weltkriegen in Flammen aufgegangen“. Nur wenn die „vielen kleinen Staaten“ einen Teil ihrer Selbstbestimmung abgeben, können sie ihre „Kraftquellen bewahren oder sogar steigern“. Gemeinsam sind wir stark: Das ist wenig spektakulär, das wagen auch Politiker unserer kleinmütigen Gegenwart zu sagen.

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