Immer mehr Besucher kommen nach Europa. Doch was erwarten sie sich von Hallstatt, Florenz oder Venedig? Über die Macht der kulturellen Illusion – und Neurotisches wie das Paris-Syndrom.
VENEDIG. Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat eine Krankheit, die ihre Gäste befällt. Beim „Venedig-Syndrom“ glauben Psychologen eine Häufung von Selbstmordversuchen unter Besuchern dieses Sehnsuchtsortes nachweisen zu können. Es läge ja nahe: die sterbende Stadt, der „Tod in Venedig“, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ – das morbide Image fordert seine Opfer. Die meisten Suizid-Anwärter sollen schon mit der festen Absicht anreisen, sich das Leben zu nehmen. Damit würden sie die Erwartungen erfüllen, die sie selbst an ihr Reiseziel richten.
Aber es gibt auch vor Ort vom Ort Enttäuschte, bei aller Schönheit und Magie der Serenissima. Vor allem Asiaten zeigen sich oft schockiert vom maroden Zustand vieler Gebäude. Der Grund: In ihrer Heimat hat das Alter von Bauwerken keinen Wert an sich.
Mit dem stolzen Hinweis, ein Palazzo stehe schon seit 700 Jahren auf seinen morschen Pfählen, kann man sie kaum beeindrucken. Die romantische Patina, die ein bröckelnder Putz vermittelt, ist für sie keine ästhetische Kategorie. Jede fernöstliche Kommune, die es sich leisten kann, baut ihre Tempel alle 30 Jahre neu, damit sie nicht schäbig aussehen. Alles andere wäre ein Armutszeugnis.