Filmfestspiele Venedig: Waltz starrt ins Schwarze Loch

In einer Welt voller Widersprüche und knallbunter Regenmäntel: Christoph Waltz (mit Aktentasche) als Computergenie in „The Zero Theorem“.
In einer Welt voller Widersprüche und knallbunter Regenmäntel: Christoph Waltz (mit Aktentasche) als Computergenie in „The Zero Theorem“.(c) Filmfest Venedig
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Heuer der einzige österreichische Beitrag: Christoph Waltz' Rolle in einem Science-Fiction-Kammerspiel von Terry Gilliam. Jetzt schon ein Favorit für den Goldenen Löwen: „Tom at the Farm“ von Xavier Dolan.

Nackt und kahl rasiert sitzt Christoph Waltz vor einem hochkantigen Bildschirm und starrt in ein Schwarzes Loch: Das astronomische Objekt hält ihn – bzw. den von ihm dargestellten Qohen Leth – völlig in Bann, er scheint dem Sog des Nichts wie ausgeliefert. Dann klingelt das Telefon, schnell reißt er den Hörer an sich, legt wieder auf. Dann beginnt das Spiel von Neuem: sich im Nichts verlieren, auf den einen Anruf hoffen, enttäuscht werden.

Schon diese erste Sequenz von Terry Gilliams „The Zero Theorem“ enthält den Kern seiner Philosophie (das Leben ist ein Hamsterrad) – und fast die gesamte Story. Denn kurz darauf wird Qohen eine Aufgabe erhalten, für die er prädestiniert ist: Für Management (Matt Damon) soll er mathematisch beweisen, dass null gleich 100 % ist. Den restlichen Film wird er vor dem Computer verbringen und nur ab und zu mittels Ganzkörperanzug in virtuelle Welten verschwinden.

Es ist eine bewusst antiquiert wirkende Zukunft, die Terry Gilliam in seiner Science-Fiction-Parabel inszeniert. Meilenweit vom Common Sense des futuristischen Designs glatter Oberflächen und kabelloser Verbindungen entfernt, entführt er uns in eine vor Widersprüchen berstende Welt. Knallbunte Blümchenkleider und Plastikmäntel, wohin man auf der Straße blickt, dem Menschen folgende Werbevideos an den Häuserfassaden, imposante Marmorkolonnen im einen Raum, im nächsten eine düstere Industrieanlage. Qohen lebt als Einsiedler mit ein paar Pizza essenden Ratten in einer heruntergekommenen Kapelle. Wie einst in Gilliams „Brazil“ gehorchen die Dinge einer gleichermaßen absurden und zynischen Ordnung.

Noch bevor die Gleichung bewiesen ist, haben sich alle damit arrangiert, dass nicht mehr als das Nichts zu erwarten ist. Nur Qohen bleiben Zweifel: Aus der Rhetorik aktueller Diskussionen wirft er dann und wann Brocken hin wie „I have nothing to hide“ als Antwort auf den Überwachungsstaat, von dem scheinbar keine Gefahr ausgeht. Doch später rafft er sich tatsächlich zu einem kleinen Wutausbruch auf. Die Nuancen zwischen Apathie, Lethargie und Frustration beherrscht Christoph Waltz trotz seiner Tendenz zum expressiven Spiel mühelos. Aber erst die existenzielle Melancholie, die er nach und nach unter den anderen Gefühlen herausschält, macht aus seiner Figur ein überzeugendes emotionales Zentrum.

„The Zero Theorem“ funktioniert vor allem als schwelgerischer Spaß an absurder Science-Fiction, für Fans von Gilliams filmischem Universum und Adepten der schauspielerischen Wunderwaffe Waltz. Schwieriger zu folgen ist dem Film in seiner umfassenden Technologiekritik, die trotz guter Absichten oft etwas altväterlich daherkommt. Gerade die ständig wiederholte Dichotomie zwischen virtueller und physischer Welt ist kaum nachvollziehbar und letztlich auch wenig ergiebig. Immerhin erlaubt sich Gilliam durch die Verschiebung der Lustbefriedigung ins Digitale einen nicht unwesentlichen Schlenker in dieser medienhistorisch alten Debatte. Am Schluss bietet sein Film eine so einfache wie romantische Antwort auf das Problem, das er selbst stellt – warum so viele Menschen heute so unzufrieden sind.

In „Tom à la ferme“, dem Wettbewerbsbeitrag des 24-jährigen Xavier Dolan aus Quebec, ist Lust hingegen eine durch und durch körperliche Angelegenheit. Nachdem das Wunderkind des frankofonen Kinos in seinem zweiten Spielfilm „Herzensbrecher“ („Les amours imaginaires“) der unerwiderten, rein mentalen Liebe der Oberflächen gefrönt hat, widmet es sich nun einem brutalen Zweikampf, dessen erotische Dimension schnell in den Vordergrund tritt.

Sadomasochistisches Spiel

Zwischen Tom (Dolan) und Francis (Pierre-Yves Cardinal) entspinnt sich ein sadomasochistisches Spiel am Rande einer Beerdigung. Toms Freund und Francis' Bruder Paul (Olivier Morin) ist unter mysteriösen Umständen verstorben, die Mutter Agathe (Lise Roy) weiß nichts von dessen Homosexualität. Francis droht Tom mit Gewalt, wenn er etwas verrät, und unterstreicht seine Drohung, indem er ihn mit aller Kraft in der Toilette auf den Boden presst. Die intimen Momente nehmen zu, im Kornfeld, hinter einem Schuppen, in der Scheune. Tom muss wegen seiner Wunden zum Arzt. Und er wird auf der Farm bleiben.

Dolan ist ein visuell überbordender Filmemacher, der das Spiel mit extravaganten Stilen liebt. Mit „Tom at the Farm“ hat er sich auf die Regeln des Psychothrillers eingelassen und findet zu einer beinahe klassizistischen Form. So gebändigt entwickelt seine Bildsprache eine ungeheure Wucht. Was in vergangenen Filmen vor allem überwältigend wirkte, wird hier zu einer bemerkenswert fokussierten Intensität. Und obwohl Dolan nie ganz das Kammerspielartige der Vorlage abschüttelt, hat er einen bestechend visuellen Kinofilm gedreht, der das Landschaftspanorama und die Großaufnahme gleichermaßen in den Dienst seiner Spannungsdramaturgie zu setzen weiß. Zur Halbzeit des Festivals kann „Tom at the Farm“ schon jetzt als Favorit auf den Goldenen Löwen gelten. Im letzten Bild, wenn der Abspann bereits abgelaufen ist, schaltet eine Ampel auf Grün. Für Dolan freie Fahrt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2013)

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