Ein Vorbild für Pippi L.

Das Waisenkind Anne (Amybeth McNulty) wird vom älteren Bauern Matthew (R. H. Thomson) adoptiert.
Das Waisenkind Anne (Amybeth McNulty) wird vom älteren Bauern Matthew (R. H. Thomson) adoptiert.(c) Netflix
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Der Jugendbuch-Klassiker „Anne auf Green Gables“ wurde als „Anne with an E“ sehenswert neu adaptiert.

Das Geschwisterpaar Marilla und Matthew Cuthbert aus der Serie „Anne with an E“ hat eine genaue Vorstellung von dem Familienzuwachs, den die zwei im Waisenhaus quasi bestellt haben: Ein fleißiger und braver Bub soll es sein, um ihnen bei der Arbeit auf ihrer Farm zu helfen. Schließlich gehen beide auf die 60 zu. Doch das Kind, das am Bahnhof ankommt, ist nicht wie erwartet: Anne Shirley ist ein Mädchen.

Als Matthew mit Anne nach einer langen Fahrt über die frühlingsgrüne kanadische Insel Prince Edward Island bei der Farm Green Gables ankommt, hat er sie aber schon lieb gewonnen und will sie nicht mehr gegen einen Buben tauschen. Im Gegensatz zu seiner Schwester: Die kühle und vernünftige Marilla braucht länger, um sich für das aufgeweckte Waisenkind zu erwärmen. Dem Zuschauer geht es ähnlich, denn Anne ist nicht süß. Dünn, sommersprossig und mit roten Zöpfen nennt sie sich selbst hässlich – das ist sie nicht, aber mit ihrer altklugen, oft trotzigen Art und ihrem Dauerredefluss kann sie nerven. Wie ein echtes Kind eben.

Astrid Lindgren gefiel das authentisch gezeichnete Mädchen. Die Romanvorlage von Lucy Maud Montgomery (1874–1942), die in den 1890ern spielt, soll zu ihren Lieblingsbüchern gehört haben – und ein Vorbild für Pippi Langstrumpf gewesen sein. Allein die Haare . . . „Anne auf Green Gables“ wurde nach dem Erscheinen 1908 ein Bestseller, und Montgomery selbst verfasste mehrere Fortsetzungen. Die bekannteste Verfilmung ist wohl die Miniserie von 1985, die auch in Österreich ausgestrahlt wurde.

Die neue Adaption, von Netflix und dem kanadischen Sender CBS koproduziert, fällt weniger sanft aus als diese. Anne, wunderbar dargestellt von Amybeth McNulty, fällt es schwer, sich einzufügen. Die Nachbarn begegnen ihr mit Misstrauen. Immer wieder bricht sie gesellschaftliche Tabus, die sie aus ihrem bisherigen Leben nicht kennt. Dieses hat sie – das verraten Rückblenden – als unbezahltes Kindermädchen bei Großfamilien oder im Waisenhaus verbracht, wo sie als Außenseiterin schikaniert wurde.

Flucht in die Traumwelt

Diese Vergangenheit ist der Grund dafür, dass Anne so geübt darin ist, sich in Traumwelten zu flüchten. Ihre Fantasie, ihre verständnisvollen Zieheltern (Geraldine James, R. H. Thomson) und die Naturaufnahmen bewahren „Anne with an E“ davor, düster wie „Oliver Twist“ zu werden.

Drehbuchautorin Moira Walley-Beckett (sie schrieb die preisgekrönte „Breaking Bad“-Folge „Ozymandias“) gelingt der Spagat zwischen idyllisch und realistisch. Geschickt werden auch zeitgenössische Themen eingeflochten. So wird aus der strengen Marilla sogar eine Frauenrechtlerin, weil sie Anne die Möglichkeit geben will, die sie selbst nicht hatte: ein Leben außerhalb der Küche. Pippi würde das gefallen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2017)

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