Die wunderbaren Huren der 42nd Street

James Franco als Barmann.
James Franco als Barmann.(c) Paul Schiraldi Photography (Paul Schiraldi)
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Serie. David Simon, Schöpfer von „The Wire“, hat der New Yorker 42nd Street und denen, die dort in den 1970er-Jahren gelebt und für die Sexindustrie gearbeitet haben, ein grandioses Denkmal gesetzt: „The Deuce“ läuft ab 11. September auf Sky.

Es gibt da diese Studentin namens Abby. Sie studiert englische Literatur und wird festgenommen, als sie versucht, an irgendeiner finsteren und versifften Ecke der 42nd Street Speed zu kaufen. Dass sie doch nur wach bleiben wollte, weil sie für die Prüfung am nächsten Tag noch büffeln muss, ist dem Officer egal. „Nicht sehr schlau von dir“, sagt er knapp. Aber nach ein paar Stunden auf der Wache lässt er sie doch noch laufen und lädt sie gleich auf einen Drink ein.

Nein, nicht, was Sie jetzt glauben.

Oder die Hure namens Bernice. Einer ihrer Freier zahlt dafür, dass sie mit ihm fernschaut. Was super ist, weil die Filme super sind, aber blöd, weil so ein durchschnittlicher Film um einiges länger dauert als ein durchschnittlicher Akt. Einmal schlafen Bernice und ihr Freier dabei sogar ein! Panik! Wie soll sie das ihrem Zuhälter erklären? Diesen Verdienstentgang? Sie nimmt dem Freier das Portemonnaie ab, zählt ein paar Scheine ab, legt es wieder zurück.

Sie hat keinen Dollar mehr an sich genommen, als ihr zusteht.

Candys Hoffnung: Pornoregie

Da wäre Candy (Maggie Gyllenhaal), die keinen Zuhälter hat, „no man“. Und Vincent (James Franco), verheiratet, zwei Kinder, der sich in diversen Bars die Nächte um die Ohren arbeitet, und wenn er heimkommt, liegt seine nicht mehr ganz nüchterne Schwiegermama im Wohnzimmer. Gyllenhaal und Franco spielen offiziell die Hauptrollen – und wie sie sich langsam, ganz langsam die Perücke abnimmt oder er Kokain von der Hand seines Zwillingsbruders schnupft, gehört zu den Höhepunkte von „The Deuce“. Aber die vielen, vielen anderen Figuren sind nicht weniger wichtig: Barbara, die als erste der Prostituierten der 42nd Street zu einem Pornocasting geht, Bobby, der in der dritten Folge einen Herzinfarkt erleidet, der Zuhälter CC, der zwischen echter Angst und kokaininduzierter Paranoia schwankt, Danny Flanagan, Sandra Washington – jede ihrer Geschichten ist garantiert dramatischer oder harmloser, lustiger oder trauriger, als man zuerst glaubt. Dieses Pornocasting vor dem biederen Paravent. Dieser Dreh mit Wikingerhelmen!

David Simon hat schon in der viel gepriesenen Serie „The Wire“ ein Bild einer Stadt gezeichnet, indem er ihren Bewohnern zugeschaut hat beim Leben und Sterben, beim Hoffen und Sich-Fürchten. Dabei hatte er sich für jede Staffel ein Thema vorgenommen: Das Schulsystem. Die Gewerkschaften. Die Drogenszene. „The Deuce“ funktioniert ähnlich: Im Fokus ist die Sexindustrie. Allerdings spielt diese von HBO produzierte Serie in der Vergangenheit, konkret in den 1970er-Jahren. Und es geht nicht um das Porträt einer ganzen Stadt, sondern nur um jenes Viertel, das früher „The Deuce“ hieß und die 42nd Street in Broadway-Nähe meinte.

Damals war das ein übles Pflaster, was die Serie entsprechend zu bebildern weiß: Dieses New York hat nichts mit dem von „Mad Men“ zu tun. Hier säumt Müll die Straßen, die Fassaden bröckeln, die Zimmer sind schäbig, und man ist froh, dass es noch kein Geruchsfernsehen gibt. Nur die farbenfrohen Autos und Anzüge der Pimps bringen ein bisschen Glanz in die Straßen. Und die Sexindustrie? Wird nicht weniger nüchtern geschildert: Wenn Candy in ihrer Absteige ein klein bisschen Atmosphäre schaffen will, legt sie ein Tuch über die Lampe. Das muss reichen. Und nein, Süßer, auch wenn du heute Geburtstag hast: Es gibt keine Ausnahme für vorzeitigen Samenerguss. One ticket, one ride.

Apropos: Der Slang, den vor allem die Zuhälter sprechen, ist über Strecken unverständlich.

James Franco gleich doppelt

Was nicht ganz passt? So wunderbar es ist, James Franco zuzuschauen, wie er sich durch die Zwischenwelt New Yorks laviert: Doppelt ist zu viel. Er spielt nämlich Zwillinge – den Barmann Vince und den Spieler Frankie –, und auch wenn man anerkennen muss, wie raffiniert er hier kleine Unterschiede zwischen den beiden Charakteren herausarbeitet: Die Zwillingsstory verwirrt anfangs – und wirkt später aufgesetzt.

Dass sich zumindest bis Folge drei keine klare Handlung herauskristallisiert hat, ist dagegen eher ein Vorteil: So müssen Simon und sein Partner, George P. Pelecanos, ihre Figuren keiner Story unterordnen, haben Zeit, ihnen zuzuschauen – und wir mit ihnen. Die Geschichte beruht teilweise auf den Lebenserinnerungen eines mittlerweile verstorbenen Barbesitzers, an dessen Tresen am Times Square sich Huren und Künstler, Freier und Dealer, Polizisten und Trinker trafen.

Und so ein Leben hat ja auch selten eine schlüssige Handlung.

„The Deuce“, eine Produktion von HBO, wird ab 11. September auf Sky gezeigt: Acht Episoden à 60 Minuten, der Pilot hat Spielfilmlänge, in Deutsch oder Originalfassung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2017)

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