Film: Verlorene Kindheit in Italien

Dieses Idyll währt nicht lang: Der frühe Tod der Mutter verfolgt den Protagonisten ein Leben lang.
Dieses Idyll währt nicht lang: Der frühe Tod der Mutter verfolgt den Protagonisten ein Leben lang.(c) Simone Martinetto/ Movienet
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„Träum was Schönes“ von Marco Bellocchio erzählt von der Liebe eines Buben zu seiner Mama: ein Psycho-Mystery-Thriller mit Zeitgeschichte, voll alter und neuer Welt.

Viele Streaming-Plattformen und auch das Fernsehen sind von der US-Kulturindustrie dominiert. Nichts gegen diese, aber Filme von der Biennale oder aus Cannes muss man mühselig suchen. „Träum was Schönes“ vom 77-jährigen Marco Bellocchio etwa war für die „Directors' Fortnight“ in Cannes 2016 ausgewählt. Der Film erzählt von der großen Liebe eines Buben zu seiner Mama. Massimo (Nicolò Cabras) wächst in den 1990er-Jahren in einer düsteren Wohnung in Turin auf, die Mutter ist der wichtigste Gefährte, ausgelassen tanzen die beiden zu flottem Twist im Wohnzimmer.

Doch eines Nachts erwacht das Kind von einem schrecklichen Lärm. Keiner sagt ihm die Wahrheit. Der Vater ist in Trauer erstarrt, der Priester erzählt Massimo vom Himmel. Dieser ist völlig verstört, schreit beim Begräbnis, die Mama möge sofort aus dem Sarg steigen. Die Haushälterin hat wenig Gespür für sein Leiden, die verführerische Mutter eines Freundes verwirrt ihn. Er wird Sportreporter, erlebt während des Krieges in Sarajewo das fröhlich-fieberhafte Leben von Menschen, die täglich vom Tod bedroht sind. Nach einer Panikattacke ruft er im Spital an und spricht mit einer verständnisvollen Ärztin . . .

Zuflucht bei einem alten Serienhelden

Bellocchio erzählt keine schlichte Mutter-Sohn-Geschichte in Sepiafarben, er fächert gemächlich die Zeitgeschichte auf, die labile Lage in einem skandalgeschüttelten Italien, die noch schlimmere in Ex-Jugoslawien, Entertainment zwischen Schwarz-Weiß-TV und Fantasy- bzw. Horrorfiguren. Nachdem ein Fußballmatch Massimo aus der Verzweiflung gerissen hat, vertraut er sich Belphégor an. Der Held einer französischen TV-Serie aus den 1960er-Jahren, der ein wenig wie Zorro aussieht, ist nach einem moabitischen Gott bzw. einem christlichen Dämon benannt und erscheint in Begleitung eines Kindes. Das Phantom nimmt schließlich die Gestalt von Massimos Mutter an – die ihm die Augen zuhält bei einer Szene, in der Juliette Greco, die ebenfalls in der Serie mitspielt, in den Tod stürzt. Bellocchio mischt Wallace und Hitchcock mit Fellini zum vielschichtigen Psycho-Mystery-Thriller, der allerdings nie an melodramatischen Banalitäten kleben bleibt.

Obwohl der Film mit 135 Minuten lang ist, gibt es immer neue bannende Bilder. Wenn etwa Massimo, der sich von seiner Vergangenheit nicht lösen kann, auf der diamantenen Hochzeit der Großeltern seiner Freundin einen über alle Welt verstreuten italienischen Clan trifft. Die fröhlichen Menschen tanzen erst Wiener Walzer und stürzen sich dann übergangslos in Disco-Klänge. Selbst Massimo kann sich dem nicht entziehen, er wirft sich ins Getümmel, das sich teilt und ihn in die Mitte nimmt – und er versucht erstmals, seinen Dämon auszutreiben.

Nicht zuletzt zeigt Bellocchio die Macht der Kirche in Italien, die an der Schöpfungsgeschichte festhält und für die Kinder Christi Geburt in entzückend-kitschige Winterlandschaften packt, wie man sie übrigens auch in Wien zu Weihnachten in der (italienischen) Minoritenkirche sehen kann: „Träum was Schönes“, ein Film voll Welt, alter Welt, neuer Welt – die aus einer traurigen Kindergeschichte sprießt und wächst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2017)

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