Kino der Zeit und Geschichte

Aus der „Heimat“-Serie: „Die Weltmeister“ (2004).
Aus der „Heimat“-Serie: „Die Weltmeister“ (2004).(c) Filmarchiv
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Voller Uhren sind seine Filme, seine Serie „Heimat“ zeichnet ein Bild Deutschlands im 20. Jahrhundert: Das Filmarchiv zeigt das Werk von Edgar Reitz.

„Papas Kino ist tot!“, hieß es bei der berühmten Pressekonferenz am 28. Februar 1962 bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen: Eine Gruppe angehender Regisseure protestierte öffentlichkeitswirksam gegen die konventionellen Heimatfilme, Melodramen und Lustspiele – und plädierte für ein neues Kino des formalen Wagemuts. Unter den 26 Unterzeichnern des Manifests war Edgar Reitz – damals noch keine 30 Jahre alt und wie sein Weggefährte Alexander Kluge ein Freund linker Sozialphilosophie und des experimentellen Films.

Auf Kluges Frage nach der Bedeutung von Zeit in seinem Werk antwortete Reitz einst so: Auf Ziffernblattuhren wirke die Zeit immer wie stehen geblieben, wenn man kurz auf sie blicke; erst wenn man wieder hinschaue, merke man am Fortschritt des trägen Zeigers, dass sie wirklich vergangen ist. Deswegen – und weil sein Vater ein Uhrmacher war – die vielen Uhren in seinen Beiträgen zum Erzählkino, und die hohe Geschwindigkeit in seinem avantgardistischen Frühwerk.

„Die Reise nach Wien“

„Kommunikation“ (1959) bestand komplett aus Blitzlicht-Impressionen des maschinellen Systems hinter den Telefonen, Telegrammen und Radiobeiträgen von damals. Für „Geschwindigkeit“ (1962) installierte Reitz eine Kamera auf dem Dach seines Sportwagens – die entstandene Zeitraffersequenz schnitt er mit sich überkreuzenden Autobahnstreifen zusammen. Die rasche Bilderfolge endete im reinen Weiß eines taghellen Himmels, einer leer geräumten Leinwand ähnlich. Diese begann er bald auch mit narrativen Werken zu füllen. In „Die Reise nach Wien“ (1971) war der Blick aus der privaten Perspektive der Figuren bereits mit der Sicht des philosophierenden Geschichtsforschers verschaltet: Zwei Freundinnen brachen darin vom provinziellen Hunsrück in Rheinland-Pfalz nach Wien auf. Anstoß war ein mysteriöses Familienfoto gewesen, das auf das Jahr 1943 datiert war: Eine elegant gekleidete Verwandte posierte vor dem Schloss Schönbrunn. Was hatte sie bloß zu diesem unsäglichen Zeitpunkt nach Wien verschlagen?

„Der Schneider von Ulm“ (1978), ein Biopic über einen schwäbischen Flugpionier, wurde ein Misserfolg. In der Schaffenskrise kam Reitz aber die Idee seines Lebens: eine Serie, angesiedelt in einer fiktiven Ortschaft, ähnlich dem Dorf im südlichen Zipfel des Rheinlandes, in dem er aufgewachsen war. Von einfachen Menschen bewohnt, die deftigen Regionaldialekt sprechen – und deren Lebensgeschichten mit den Entwicklungen in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Verbindung stehen. „Heimat“ hieß die Serie, die er 20 Jahre lang drehte, sie kam auf eine Gesamtspieldauer von 52 Stunden. Und ergab ein Gesamtbild des 20. Jahrhunderts in Deutschland: eine Abfolge aus Rückfällen in die Barbarei und überstürzten Neuanfängen beschrieben, mit technischen und kulturellen Revolutionen zwischendrin. Nach der Darstellung des Millennium-Taumels während der letzten Sonnenfinsternis war Schluss.

Reitz hat viel Gespür für den Rhythmus der Geschichte seiner Heimat. Und er ist ein eloquenter Redner. So darf man auch auf das Podiumsgespräch am Sonntag im Rahmen der Retrospektive gespannt sein.

Edgar Reitz – Chronist einer Sehnsucht: bis 26. Februar, Metro Kinokulturhaus, Wien 1, Johannesgasse 4. Podiumsgespräch mit Reitz: So., 21. 1., 20 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2018)

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