Reinhold Bilgeris eindrückliches Biopic "Erik & Erika" handelt nicht nur vom Leben von Erik Schinegger, sondern auch vom gnadenlosen, zynischen Betrieb hinter den Kulissen des österreichischen Skisports. Ab Freitag im Kino.
Ein Kärntner Dorf kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Frau stöhnt, der Bauer wirft die Tür hart ins Schloss: Nur ein Mädchen. Am liebsten rennt die Kleine auf den Berg. Sie bastelt sich Ski aus Holzplanken, das Schneefeld ist zu schmal, sie stürzt ab. Doch Erika lässt sich nicht entmutigen. Ihr Talent fällt auf, sie verblüfft mit Spitzenzeiten, wird in den Nationalkader aufgenommen . . .
2010 drehte Reinhold Bilgeri seinen ersten Film. In „Der Atem des Himmels“ geht es um das Leben seiner Mutter, die 1954 die Zerstörung der Vorarlberger Gemeinde Blons durch Lawinen überlebte: Trotz der tragischen Umstände ein Kitsch-Epos ersten Ranges. Das Emotionale, das dem einstigen Barden Bilgeri eigen ist, hat er zu „Erik & Erika“ mitgenommen, zum Vorteil dieser Geschichte. Sie handelt nicht nur von der Spitzensportlerin Erika Schinegger und ihrer Umwandlung zum Mann, sondern auch von dem gnadenlosen, zynischen Betrieb hinter den Kulissen des in aller Welt gefeierten österreichischen Skisports. Der Film kommt gerade recht, einerseits zu den Siegen bei den Olympischen Spielen, andererseits zu den Vorwürfen von sexuellem und anderem Missbrauch im Österreichischen Skiverband.
In den Fünfzigern war Bubsein spannender
Den unbändigen Sportlergeist und Siegeswillen, der nicht danach fragt, was eine Rennläufer-Karriere außer Pokalen und jubelnden Massen noch bedeutet, hat auch die junge Erika, ein Mädel, das ein Bub sein möchte – wer wollte das damals nicht? Denn das Leben der Buben schien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren immer spannender als das der Mädchen: Räuber und Gendarm spielen statt in der Puppenküche kochen. Eben. Erika steigt rasch auf, der Sport hilft ihr, ihre Unsicherheit zu verdrängen. 1966 erringt sie den Weltmeistertitel im Abfahrtslauf der Frauen in Portillo (Chile).
Auf Youtube kann man die echte Erika den Berg hinuntersausen sehen, der Schnee recht hoch, die Piste wenig präpariert, so viel Zeit ist seither vergangen, das Material, die Technik, alles anders, und wo es damals um Zehntelsekunden ging, zählen heute Hundertstel. Erika soll bei den Olympischen Spielen in Grenoble 1968 starten, doch bei einem Test stellt sich heraus: Sie ist ein Mann. Ein Leidensweg beginnt. Sponsor Kneissl – Gründer Franz Kneissl war seinerzeit ein Monument, seine Firma erfand u. a. die Sandwichtechnologie, die heimische Skiindustrie war in der Hand von charismatischen Industriellen (Alois Rohrmoser) – wendet sich ab. 30 Männer unterschreiben, mit Erika Schinegger geschlafen zu haben, eine Entlastungsoffensive, wie das in all seiner Naivität instinktsichere Mädel erkennt. Für den Skiverband kommt es nicht in Frage, dass aus Erika Erik wird, ein Imageschaden. Eine Nonne und ein mutiger Arzt beraten Erika. Nach der Operation beginnt aber erst recht der Kampf gegen Vorurteile.
Die ganze Dumpfheit der Nachkriegsjahre
Der echte Erik Schinegger, ein äußerst erfolgreicher Skischul-Unternehmer, stand zuletzt 2014 im Rampenlicht, in der Show „Dancing Stars“. Auf Youtube schwärmt er von der Magie des Sports, ein braun gebrannter, drahtiger Mann mit dem Selbstbewusstsein und dem Optimismus eines Skilehrers, der einen – nur keine Müdigkeit vorschützen! – auch dann noch den Hang hinunter jagt, wenn man glaubt, keinen Stock mehr setzen zu können. Ein Temperament steckt in diesen Leuten! Man schwankt zwischen Mitgerissensein und der Erinnerung an kalte Füße. Über Schinegger gibt es auch eine Autobiografie und eine Dokumentation.
Bilgeri hat gründlich recherchiert und malt höchst eindrücklich die Atmosphäre, in der sich dieses Schicksal ereignete. Er führt ins heilige Land Tirol, wo das Wort Glauben noch ohne ironischen Unterton ausgesprochen wird, wo Religion Gewicht hat, die Klosterschwester unbewegt Erikas/Eriks Wutausbrüche über sich ergehen lässt, aber jede Abweichung als Schande empfunden wird – und erst eine Frau, die ein Mann ist. Die ganze Dumpfheit der Nachkriegsjahre steckt in diesem Film, der auch Bilder unberührter Idylle und unbeirrbarer Menschlichkeit zeigt. Das Ganze mag etwas bieder und altmodisch sein, aber auf eine einnehmende Art.
Liebevoll besetzt
Die Besetzung ist großartig: Markus Freistätter als Erika & Erik; Lili Epply als seine hingebungsvolle Freundin Christa, die seltsamerweise (angeblich) auch alle Sex-Abenteuer verzeiht, in die sich Erik nach seiner geglückten Verwandlung stürzt; Marianne Sägebrecht als Schwester Sigberta; Ulrike Beimpold als Sekretärin, die alles mithört, was in der ÖSV-Chefetage vor sich geht; Cornelius Obonya als Kette rauchender Funktionär Dr. Fischer, August Schmölzer als Sponsor – und all die anderen üblen Herren, die ihre Macht missbrauchen.
Seit Bilgeris Filmdebüt ist im Heimatfilm einiges weiter gegangen, „Braunschlag“ war ein Markstein, die grelle satirische Färbung tut dem Genre gut. „Erika & Erik“ hat einiges von Andreas Prochaskas düsterem Alpenwestern „Das finstere Tal“ (mit Tobias Moretti). Alles in allem: Ein gelungener Film, der daran erinnert, wie sich in wenigen Jahrzehnten Liberalität und Toleranz weiter entwickelt haben – und wie sich an gewissen Punkten die Schicksale von Hollywoodstars und Spitzensportlern berühren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2018)