„Pio“: Hier macht sich keiner Illusionen

Der junge Pio (verkörpert von Pio Amato) ist ein Kind, das gern Faxen macht – und gezwungen wird, früh erwachsen zu werden.
Der junge Pio (verkörpert von Pio Amato) ist ein Kind, das gern Faxen macht – und gezwungen wird, früh erwachsen zu werden.(c) Filmladen
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Jonas Carpignanos jüngste Arbeit „Pio“ folgt der moralischen Reifung eines jungen Roma in Kalabrien. Eine Großtat des zeitgenössischen Neorealismus.

Die Bestrebung, dem Rand der Gesellschaft auf Augenhöhe zu begegnen, hält das Kino schon lang auf Trab. Filmemacher kommen selten aus marginalisierten Milieus, und wenn sie ebensolche porträtieren wollen, wirft das allerlei ethische Fragen auf. Wie nähert man sich fremden Erfahrungswelten möglichst unvoreingenommen? Wie bildet man Leben unter prekären Bedingungen ab, ohne es zu verklären – oder in billigen Miserabilismus zu verfallen? Wie erzählt man Geschichten, ohne seine eigene Geschichte drüberzustülpen? Die erste große Antwort der Filmgeschichte auf diese Problematiken war der italienische Neorealismus: Authentische Schauplätze, Laiendarsteller und ein Verständnis für die soziale Bedingtheit des Verhaltens unterprivilegierter Menschen verringerten die Distanz zwischen Zuschauerblick und Figurenperspektive.

Die Erben der Bewegung entwickeln ihren Ansatz stetig weiter. Jean-Pierre und Luc Dardenne konzentrieren sich in ihren sozialkritischen Arbeiten beispielsweise auf die belgische Stahlarbeiterstadt Seraing, ein Ort, der ihnen schon aus Kindheitstagen vertraut ist. Das außergewöhnliche Schaffen des Portugiesen Pedro Costa zehrt hingegen stark von den intensiven Beziehungen, die er über Jahre zu den Bewohnern des Lissabonner Einwandererviertels Fontaínhas aufgebaut hat – und bringt ihre (Alb-)Träume und Sehnsüchte zum Leuchten.

Einen ähnlichen, wenngleich formal weniger radikalen Zugang hat auch der junge Italo-Amerikaner Jonas Carpignano für sich entdeckt. Schon sein Kurzfilmdebüt spielte in der kalabrischen Hafengemeinde Gioia Tauro, wo vor Jahren sein Auto gestohlen wurde. Ein Freund riet ihm, diesbezüglich die örtliche Roma-Siedlung A Ciambra aufzusuchen. Von der dortigen Gemeinschaft war Carpignano so fasziniert, dass er sich kurzerhand entschloss, hinzuziehen, um das Vertrauen der Einwohner zu gewinnen und einen Film über sie zu drehen; seinen beachtlichen Langfilm-Erstling „Mediterranea“ (2016 in Österreich zu sehen), ein Porträt afrikanischer Flüchtlinge in Rosarno, ging er auf vergleichbare Weise an.

Reibereien mit den Autoritäten

Mit dessen Hauptdarsteller Koudous Seihon gibt es in Carpignanos jüngstem Werk „A Ciambra“ ein Wiedersehen. Im Mittelpunkt stehen diesmal allerdings das titelgebende Roma-Dorf und dessen Bewohner, die erstaunlich ungschamige Schauspieler abgeben – das Ergebnis jahrelanger Kamera-Gewöhnungsarbeit des Regisseurs. Die Linse heftet sich dabei vor allem auf den jungen Pio (verkörpert von Pio Amato, Namensgeber des deutschen Verleihtitels). Noch ist er ein Kind, das mit anderen Kindern Faxen macht, die Müllberge des Viertels sind ihr Spielplatz. Aber eigentlich will er endlich erwachsen werden, sein wie sein großer Bruder, der in der Umgebung für lokale Gangster krumme Dinger dreht. Bald wird ihm sein Wunsch erfüllt: Als die Männer aus Pios Großfamilie ins Gefängnis müssen, sieht er sich in der Verantwortung, für die Hinterbliebenen zu sorgen. Eine Vorstellung davon, was Verantwortung wirklich bedeutet, hat er jedoch nicht – und sein jugendlicher Übermut stürzt ihn schnurstracks in eine moralische Zwickmühle.

Bemerkenswert an „A Ciambra“ ist, wie wenig konstruiert das alles wirkt, wie leise man (im Unterschied etwa zu jüngeren Dardenne-Filmen) die Drehbuch-Rädchen rattern hört. Das liegt zum einen an der losen, episodischen Erzählstruktur des Films, der die Atmosphäre einzelner Szenen (Discobesuche, Reibereien mit den Autoritäten) auskostet, statt sie zweckmäßig zuzuspitzen. Und zum anderen an der fantastischen Natürlichkeit des Ensembles – der lebhaften Dialekt-Schwafelei im Laufe eines Familienessens, der ausgelassenen Stimmung bei einer Zusammenkunft von Immigranten aus Burkina Faso, unter denen Pio einen Mentor findet. Verstärkt wird der dokumentarische Eindruck von körniger Textur und teils kräftigen Farben: Gedreht wurde „A Ciambra“ auf 16-mm-Material.

Am Ende geht es Carpignano um eine Frage, die weit über die Grenzen seiner Filmwelt hinausweist: Identität oder Solidarität? Manch ein (Neo-)Neorealist würde dabei zur Märchen-Utopie greifen, doch ein „Wunder von Mailand“ à la Vittorio De Sica bleibt hier aus.

Trotz poetischer Tupfer (im Tagtraum erscheint Pio das weiße Pferd seines Großvaters, ein archaisches Symbol nomadischer Freiheit) macht sich der Film keine Illusionen über die Zähigkeit von Blutsbanden. Aber er trägt die Hoffnung in sich, dass der Generationenwechsel sie ein wenig lockern könnte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2018)

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