„In den Gängen“: Ein Märchen aus dem Supermarkt

Die Magie des Pausenraums: Supermarktneuling Christian (Franz Rogowski) verschaut sich in die unerreichbare Verkäuferin Marion (Sandra Hüller).
Die Magie des Pausenraums: Supermarktneuling Christian (Franz Rogowski) verschaut sich in die unerreichbare Verkäuferin Marion (Sandra Hüller).(c) Polyfilm
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Der Ritter am Gabelstapler, die Prinzessin aus der Süßwarenabteilung: Das Einzelhandelsdrama „In den Gängen“ ist ein Glanzstück des jüngeren deutschen Kinos.

Als Kind hat man es immer faszinierend gefunden, wenn im Supermarkt sich kurz die große Tür zur Lagerhalle geöffnet und den Anblick von emsigen Arbeitern freigegeben hat, die mit Gabelstaplern konstant eintreffende Paletten umhergeschoben haben. Die bunten Regale mit den lockenden Produkten, stellte man erstaunt fest, befüllen sich offenbar nicht von selbst, sondern sind das Ergebnis von viel Schweiß, Kettenfett und abgewetzten Cuttermessern. Hinter der blendenden Warenfassade hat man eine scheinbar geheim gehaltene Kommandozentrale erspäht, in der es dreckiger, stressiger und maschineller zugegangen ist.

Sehnsucht nach Tageslicht

Der Film „In den Gängen“ ist größtenteils in Räumen angesiedelt, die man in Lebensmittelgeschäften gar nicht mehr wahrnimmt. Genauso wie man inzwischen zum Ausblenden der Gesichter von Kassakräften und Regaleinräumern neigt. Aber auf die Perspektive von Kunden verzichtet Regisseur Thomas Stuber in seinem Einzelhandelsdrama ohnehin. Die Hauptfiguren gehören zur Belegschaft eines Großmarkts an einer Autobahnausfahrt in Ostdeutschland. Sie werden bevorzugt an Orten gezeigt, die selbst einem aufmerksamen Supermarktbesucher für gewöhnlich verborgen bleiben. Im Pausenraum etwa, wo sie bei schlechtem Automatenkaffee zum Plaudern zusammenkommen. Oder in einem der vielen, von der Chefetage unbeobachteten Verstecke, wo manche von ihnen eine gemeinsame Zigarette schmauchen.

Stuber inszeniert nicht nur diese Orte als sozial-magische Rückzugsräume, auch das Figurenpersonal könnte einem Märchen entsprungen sein. Christian (Franz Rogowski), der frisch angestellte Held auf Probezeit, wirkt wie ein junger Ritter, der ein verborgenes Zauberreich betreten hat. Marion (Sandra Hüller), seine Kollegin aus der Süßwarenabteilung, wie die bildhübsche Prinzessin, um deren Liebesgunst er wirbt. Und Bruno (Peter Kurth), sein direkter Vorgesetzter, wie ein raubeiniger, aber herzensguter Fürst, der ihn unter seine Fittiche nimmt. Wie in jedem gelungenen Märchen kaschiert die übermäßige Romantisierung dieser geschlossenen Traumwelt deren Schattenseiten aber nur unvollständig.

Im Einzelhandel sind die Arbeitszeiten unerträglich lang. Die auslaugende Routine und die ständige Dunkelheit bringen das Zeitgefühl von Christian durcheinander, der nur mehr an der Laderampe natürliches Tageslicht zu Gesicht bekommt. Nach jedem späten Feierabend wartet er an einer verlassenen, von ein paar wenigen Laternen beleuchteten Haltestelle auf den Bus, der ihn zurück in seine schummrige Plattenbauwohnung transportiert. Die 2008 erschienene Erzählsammlung von Clemens Mayer, der die filmisch adaptierte Kurzgeschichte entnommen ist, heißt nicht umsonst „Die Nacht, die Lichter“.

Nach dem Mauerfall die Regalreihe

Genau wie der Regisseur, der das profane Geräusch von mechanisch in Bewegung versetzten Gabelträgern als meditatives Meeresrauschen im Kopf seines introvertierten Protagonisten inszeniert, ist auch dieser selbst darum bemüht, sich an die kleinen Lichtblicke in seinem neuen Leben zu klammern. Nur erweisen sich diese zunehmend als Illusionen. Marion könnte die Rettung am Ende des Tunnels sein, aber bleibt als verheiratete Frau unerreichbar. Und Bruno, in dem er ein väterliches Vorbild zu erkennen glaubt, leidet in Wirklichkeit unter Depressionen. Er vermisse die Zeit vor der Wende, als er Lkw-Fahrer gewesen sei, gesteht er Christian. Die Straße war in der DDR zwar nicht grenzenlos wie im Westen, aber die Regalreihen, die ihn nun umgeben, muten in seinem Alltag wie eine viel präsentere Mauer an. „In den Gängen“ ist ein buchstäbliches Glanzstück des jüngeren deutschen Films – leise, schön und traurig.

Sandra Hüller & Franz Rogowski

Junges deutsches Kino. In der Welle hochwertiger Autorenfilme, die zuletzt aus Deutschland in die Kinos geschwappt ist, sind Hüller und Rogowski wiederkehrende Gesichter: Sie spielte in der Oscar-nominierten Tragikomödie „Toni Erdmann“ von Maren Ade, er – außer in Michael Hanekes „Happy End“ – etwa in dem in einem Take gedrehten Berlin-Abenteuer „Victoria“, in der Machoposse „Fikkefuchs“ und in Christian Petzolds ungewöhnlicher Literaturverfilmung „Transit“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2018)

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