Kein Sexfilm, aber ein Film über Sexualität

Die Figuren sehnen sich alle nach Nähe, die sie nicht zulassen können.
Die Figuren sehnen sich alle nach Nähe, die sie nicht zulassen können. (c) Alamode Film
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Im Kino. Adina Pintilies ungewöhnliche Doku-Fiktion „Touch Me Not“ gewann heuer den Goldenen Bären in Berlin: eine feinfühlige Erkundung von Sex und Intimität, die sich auch als Therapieangebot ans Publikum versteht.

Langsam gleitet der Kamerablick über das nackte Bein. Der Schwenk fühlt sich an wie eine Landschaftsaufnahme, das Panorama einer Hautsteppe voller Haarsträucher. Unvermittelt schiebt sich ein unscharfer Hügel ins Bild. Man braucht eine Weile, bis man erkennt: Es handelt sich um einen Penis im Ruhezustand.

Doch die Irritation währt nur einen Atemzug. Sie wird gedämpft vom ruhigen, unbeirrten Fluss der Bewegung, von der Neutralität des himmelblauen Hintergrunds, vom sanften Dröhnen auf der Tonspur. Im Nachhinein wirkt das Gemächt wie ein schlafendes Tier.

Intimität, Sexualität: Gleich in der ersten Einstellung des rumänischen Berlinale-Gewinners „Touch Me Not“ wird klar, dass er Berührungsängste mit diesen Themen abbauen will. Keine Feigenblätter, keine falsche Scham, aber auch keine Schocktaktiken; stattdessen eine behutsame Annäherung, offen und wertfrei. Kein Sexfilm, sondern ein Film über Sexualität.

Eine sexpositive Leinwandutopie

Ein Begriff, der in letzter Zeit auch außerhalb von Nischendiskursen die Runde macht, kommt dabei in den Sinn: „Sex-Positivity“. Seine Bedeutung geht auf eine naheliegende Theorie zurück, die Libidologen wie Wilhelm Reich schon im vergangenen Jahrhundert formulierten: Sex ist gesund. Allerdings – und das ist der Unterschied zu historischen Konzepten freier und heilsamer Liebe – nicht nur in seiner „klassischen“ Form. Jedwede sexuelle Betätigung mündiger Menschen bei gegenseitigem Einverständnis und Lustgewinn sei grundsätzlich begrüßenswert, so lautet die Maxime sexpositiven Denkens. Der schmuddelig-schamhafte Ruch, der Wörtern wie „Perversion“ anhaftet, soll mit einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber erotischen Ausdrucksformen (fast) aller Art aus der Welt geschafft werden.

„Touch Me Not“ ist unter anderem ein Versuch, diese Utopie auf der Leinwand auszumalen. Sein Konzept zu beschreiben fällt nicht leicht: Als „Hybridkino“-Vertreter setzt er sich zwischen Doku- und Spielfilmstühle, vermischt Erfundenes mit Vorgefundenem und entwickelt so eine eigenständige Erzählweise.

Porträtiert wird ein lose verbundenes Figurenensemble. Ihre Gemeinsamkeit ist das drängende Bedürfnis nach Nähe und sexueller Erfüllung – und die Unfähigkeit oder der Widerwille, sich den Gepflogenheiten konventioneller Geschlechtsbeziehungen zu beugen. Da wäre Laura. Eine Frau um die fünfzig, schwarzhaarig, verhärmt. Sie lädt sich einen Callboy ins Hotel, sieht ihm beim Masturbieren zu. Als er gegangen ist, legt sie sich ins Bett und vergräbt das Gesicht sehnsüchtig im Laken. Groß ist die Angst, angefasst zu werden. Nahezu unüberwindbar. Doch der Film lässt Laura nicht damit allein. Er folgt ihren Versuchen, die emotionale Panzerung abzubauen, bei Psychologen abseits des Klischees: eine deutsche Transsexuelle, die mit ihr Brahms hört, ein australischer Sexualberater, der Grenzen mit zärtlichen SM-Spielen auslotet.

Die Regisseurin kennt Hemmungen

Als Therapeutin dient sich auch Adina Pintilie an. Die Regisseurin des Films ist meist nur als Gesicht auf einem Monitor zu sehen. Im Gespräch versucht sie, ihre Gegenüber besser zu verstehen – und gleichzeitig sich selbst, denn die Hemmungen ihrer Hauptfiguren sind ihr nicht fremd. In einer Tricktechnikszene verwandelt sie sich sogar in einen von ihnen, den blauäugigen Isländer Tómas. Dieser wird von Tómas Lemarquis verkörpert, bekannt aus dem eindringlichen Coming-of-Age-Film „Nói albinói“. Doch man hat nie das Gefühl, einen Schauspieler vor sich zu haben. Tatsächlich hat Pintilie ihre „Figuren“ in Zusammenarbeit mit den Darstellern entwickelt, die hier erstaunlich viel von sich preiszugeben scheinen. Verstärkt wird dieser Eindruck davon, dass zwischen ihnen und Laien wie Christian Bayerlein, einem Webentwickler mit spinaler Muskelatrophie und furchtlosen sexuellen Abenteurer, keinerlei inszenatorischer Unterschied gemacht wird. Im Gegenteil: „Gestellte“ Sequenzen, darunter auch eine in einem SM-Club, führen alle unter einem Fantasie-Dach eng.

Therapie in Weiß-Grau

Pintilies Doku-Fiktionsstrategie kennen Österreicher schon aus Arbeiten Ulrich Seidls, aber ihre Ästhetik nicht. Sie ist, von der weiß-grauen Farbpalette über die entrückte Experimentalmusik Ivo Paunovs bis zur bewussten Aussparung biografischer Details, die eine psychologische Distanznahme erleichtern würden, darauf ausgerichtet, eine neutrale, nahezu abstrakte Atmosphäre zu wahren. „Touch Me Not“ versteht sich nicht zuletzt als therapeutisches Angebot ans Publikum – als Einladung, der eigenen Intimität nachzuspüren und sich in emotionaler Entgletscherung zu üben. Das machen freilich auch andere Filme, von trivialerer Programmkinoware bis zum Außenseiter-Beziehungsdrama „Körper und Seele“, das schon 2017 in Berlin gewann – aber nur wenige gehen dabei so feinfühlig vor wie Pintilies wunderliches Wagnis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2018)

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