Die Geister des Charles Dickens

Charles Dickens (Dan Stevens) und seine Figur Scrooge (Christopher Plummer).
Charles Dickens (Dan Stevens) und seine Figur Scrooge (Christopher Plummer).(c) Bah Humbug Films Inc. & Parallel Films
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„Der Mann, der Weihnachten erfand“ erzählt recht schrullig die Entstehungsgeschichte des Festtagsklassikers „A Christmas Carol“. Im Fokus: das Kindheitstrauma des Schriftstellers.

Der Ort, der Charles Dickens geprägt haben dürfte wie kein anderer, ist dunkel, schmutzig und rattenverseucht. Kleine Buben mit rußverschmierten Gesichtern kleben hier hustend Etiketten auf Glasfläschchen, während unter ihnen, getrennt nur von ein paar morschen Holzbalken, in einer großen Wanne die schwarze Suppe brodelt. Dickens war selbst einer dieser Buben: Als er elf war, kam seine Familie in Schuldhaft, und er musste einige Monate lang in Warren's Blacking Warehouse, einer Fabrik für Schuhpolitur, arbeiten. Sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag.

Der kleine Charles, eine sensible Seele, litt sehr unter der harten Arbeit, der Scham und Erniedrigung sowie der Tatsache, dass seine Eltern ihn, den begabten Buben, so leichtfertig ins schmutzige Erwerbsleben geschickt hatten. Das Elend, die harschen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, Armut und Kinderausbeutung thematisierte er später in Werken wie „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ – doch woher er seine realistischen Schilderungen bezog, wagte er zeitlebens kaum jemandem zu erzählen. Die Erfahrungen in der Fabrik hatten ihn nicht nur geprägt, sie suchten ihn auch heim: Er sei so von Schmerz und Demütigung durchdrungen, schrieb er, „dass ich selbst jetzt, berühmt, geliebt und glücklich wie ich bin, in meinen Träumen oft vergesse, dass ich ein liebes Weib und Kinder habe – selbst jetzt, da ich ein Mann bin – und trostlos in jene Zeit meines Lebens zurückwandere“.

Sechs Wochen für einen Klassiker

Das zeigt auch ein neuer Film in einiger Deutlichkeit: „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand“, nach dem gleichnamigen Buch von Les Standiford, blendet immer wieder die Bilder der dreckigen Halle ein, in der ein weinender Bub seine Arbeit verrichtet. Der Film, der diesen Freitag in die österreichischen Kinos kommt, erzählt eigentlich davon, wie Dickens im Winter 1843, von finanziellen Engpässen und Misserfolgen leicht aus der Bahn geworfen, innerhalb von sechs Wochen das Buch schrieb, das das Weihnachtsfest vor allem im englischsprachigen Raum so prägen sollte wie kaum ein anderes: „A Christmas Carol“. Der Weg dorthin ist hier aber nicht nur ein literarisch-kreativer Prozess, sondern vor allem Dickens' Versuch, sich von den Geistern der eigenen Vergangenheit zu befreien.

Dan Stevens, bekannt aus „Downton Abbey“ und „Die Schöne und das Biest“, spielt den 31-jährigen Schriftsteller als wunderlichen Wirbelwind mit wachen Augen: Seine letzten Bücher waren Flops, doch sein Londoner Haus will aufwendig renoviert werden, seine Frau erwartet ihr fünftes Kind, auch sein verschwenderischer Vater (Jonathan Pryce), den er immer noch für sein Kindheitstrauma verantwortlich macht, liegt ihm auf der Tasche – Dickens braucht Geld. Glücklicherweise hat er eine Buchidee, die ihn so erfolgssicher stimmt, dass er gleich noch mehr Schulden macht . . .

Den Inhalt der Weihnachtsgeschichte (den kaltherzigen Geizhals Scrooge besuchen in der Weihnachtsnacht drei Geister, die ihn lehren, ein besserer Mensch zu werden) setzt der britische Regisseur Bharat Nalluri als bekannt voraus, während er die Parallelen mit Dickens' eigenem Leben herausarbeitet. Bald stehen auch in dessen Arbeitszimmer die Figuren seiner Geschichte wie Geister herum, fordern Mitspracherecht über ihr Schicksal („Ich bin hier der Autor!“, muss Dickens irritiert ausrufen) und machen ihm zunehmend Leben und Schaffen schwer. Es ist ein Spiel mit einer unter Literaturwissenschaftlern beliebten Idee: Was, wenn der griesgrämige Misanthrop Scrooge (hier gespielt von Christopher Plummer) nichts anderes ist als die Personifizierung von Dickens' eigenen Ängsten?

Das alles fließt ein in einen zwar ordentlich zerfaserten und letztlich höhepunktlosen, aber auch vergnüglichen Plot. Schrullige Charaktere bevölkern dieses viktorianische London, darunter etwa der Schriftstellerkonkurrent William Makepeace Thackeray, der im Restaurant genüsslich von Tisch zu Tisch zieht, um Kollegen aus deren schlechten Kritiken zu zitieren. Selbst er sollte „A Christmas Carol“ später über die Maßen loben: „a national benefit“. Wenn er nur von Dickens' Geistern gewusst hätte!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2018)

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