„Roma“: Diesen Netflix-Film muss man im Kino sehen

Die Kamera übernahm Cuarón selbst.
Die Kamera übernahm Cuarón selbst. (c) Photo by Carlos Somonte (Carlos Somonte)/ Netflix
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Am Freitag startet Alfonso Cuaróns preisgekröntes Erinnerungsdrama auf Netflix, in den Kinos läuft es schon. Gut so: Das prachtvolle Schwarz-Weiß-Meisterwerk, für das Cuarón das Mexiko seiner Kindheit rekonstruierte, schreit förmlich nach der großen Leinwand.

Ein Film gewinnt in Venedig den Goldenen Löwen und kommt dann nicht in die Kinos: Eine absurde Vorstellung. Dennoch schien dieses Szenario im Fall von Alfonso Cuaróns „Roma“ nicht außerhalb des Möglichen zu liegen. Produziert wurde das preisgekrönte Historiendrama nämlich von Netflix, und die Filmveröffentlichungspolitik des Streaming-Giganten war nie besonders leinwandfreundlich: Wozu Publikum mit Lichtspielhäusern teilen, wenn man Onlinekunden mit Exklusivprodukten binden kann?

Im Fall aufwendiger Projekte namhafter Regisseure, bei denen es nicht zuletzt um Prestigegewinn und mediale Aufmerksamkeit geht, brachte diese Haltung jedoch oft Probleme mit sich. Cannes schloss Netflix heuer vom Wettbewerb aus, weil die Firma sich weigerte, einen regulären Frankreich-Kinostart ihrer Beiträge zu garantieren. Auch die Oscars ziehen Filme nur in Betracht, wenn sie reguläre Vorführungen vorweisen können.

Umdenken bei Netflix?

Letzteres dürfte bei der Entscheidung von Netflix, „Roma“ in die Kinos zu bringen, eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. In Österreich lief der Film vergangenen Freitag an, genau eine Woche vor seiner Premiere auf der Onlineplattform. Der Streaming-Anbieter scheint seinen bisherigen Umgang mit Qualitäts- und Vorzeigeproduktionen zu überdenken – und an die Erfolgsstrategie des Konkurrenten Amazon anzupassen. Auch dem Coen-Brüder-Episodenwestern „The Ballad of Buster Scruggs“, Paul Greengrass' Utøya-Drama „22 July“ und David McKenzies „Braveheart“-Ergänzung „Outlaw King“ wurde in manchen Ländern limitierte Leinwandpräsenz gewährt. Die ersten beiden Filme liefen heuer neben „Roma“ im Venedig-Wettbewerb, Letzterer eröffnete das Filmfestival von Toronto.

Die Dauer und Flächendeckung des „Roma“-Starts stellt trotzdem einen Ausnahmefall dar – und wirkt wie ein Testlauf. Einen besseren Film hätte sich Netflix dafür kaum aussuchen können: Von der Kritik nahezu einhellig als Meisterwerk gefeiert, schreit „Roma“ förmlich nach der großen Leinwand: In prachtvollem Schwarz-Weiß auf 65mm gedreht, besteht er fast nur aus behutsamen Schwenks durch detailreiche, tiefenscharfe Breitwandpanoramen. Der Titel lässt an Fellini denken, bezieht sich aber auf den mexikanischen Stadtteil, in dem der Regisseur seine Kindheit verbrachte.

Mit erstaunlicher Genauigkeit lässt Cuarón diesen aus dem Gedächtnis wiederauferstehen, doch „Roma“ ist trotz vieler persönlicher Details keine klassische Autobiografie. Nicht der Filmemacher, sondern sein einstiges Mixteca-Kindermädchen steht im Mittelpunkt. Einfühlsam entblättert der Film ihre heimlichen Dramen, für die Cuaróns bürgerliche Familie damals kein Auge hatte.

Geschichte ist dabei etwas, das nebenher passiert: Mexikanische Revolten und Repressionen der 1970er-Jahre gehen im (Bild-)Hintergrund vonstatten, während Cleo (Yalitza Aparicio) Liebesglück und -unglück durchlebt, schwanger wird und ihre trotz Wohlstand krisengeschüttelte Arbeitgebersippschaft mit schier unerschöpflicher Geduld zusammenhält.

Die technische Virtuosität, die Cuaróns bisherige Arbeiten („Children of Men“, „Gravity“) auszeichnete, äußert sich hier in der eindrucksvollen Choreografie naturalistischer Wimmelbilder. Doch die Inszenierung drängt sich nie auf: Womöglich, weil Emmanuel Lubezki, der bewegungsaffine Stammkameramann des Regisseurs, für „Roma“ keine Zeit fand – und Cuarón die Bildsetzung selbst übernahm. Das Ergebnis überzeugt nicht zuletzt aufgrund eines leicht distanzierten, nahezu objektiven, aber nie empathielosen Blicks. Viele der atemberaubend schönen Einstellungen strahlen zenartige Ruhe aus. Am Ende steht das buddhistische Mantra „Shanti shanti shanti“. Bleibt zu hoffen, dass Netflix in Bezug auf seine Kinopolitik ebenfalls inneren Frieden findet – damit Filme wie „Roma“ auch künftig kein reines Bildschirmdasein fristen müssen.

NETFLIX UND DAS KINO

Streamingdienst. Das kalifornische Unternehmen begann 1997 als Versandvideothek, bevor es Filme und Serien online verfügbar machte und zum größten Streamingdienst wurde. 2013 gab es seine erste eigene Serie in Auftrag („House of Cards“), 2014 expandierte es auch nach Österreich – und mischt seit 2015 das Filmgeschäft auf. Namhafte Regisseure – darunter etwa die Coen-Brüder oder Martin Scorsese („The Irishman“ kommt 2019) – lockt Netflix mit dem Versprechen kreativer Freiheit. Dass Eigenproduktionen bisher nicht oder nur limitiert im Kino liefen, empörte Cinephile.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2018)

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