Ode an Russlands Rock-Revolution

Hager und entrückt: Teo Yoo (r.) als Sänger der 1981 gegründeten russischen Band Kino.
Hager und entrückt: Teo Yoo (r.) als Sänger der 1981 gegründeten russischen Band Kino. (c) Filmladen
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Während Regisseur Kirill Serebrennikow vor Gericht steht, setzt sein Musikfilm „Leto“ der sowjetischen Gegenkultur ein betörendes Denkmal. Ab Freitag im Kino.

Die Gitarre röhrt, das Schlagzeug wummert. Lässig schmettert der Sänger den Refrain: „Du bist ein Miststück!“ Im Saal vibriert die Luft. Doch das Publikum rührt sich nicht vom Fleck, bleibt brav auf seinen Plätzen, höchstens ein verhaltenes Wippen hier und da. Als zwei Fans zögerlich ein Herz-Transparent entrollen, sind die Aufpasser umgehend zur Stelle: „Mädels, macht keinen Ärger!“

Nein, wir sind hier nicht bei den Toten Hosen im Burgtheater. Sondern im legendären Leningrader Rockclub, irgendwann Anfang der 1980er-Jahre. Wobei „Rockclub“ in diesem Fall keine anarchische Krawallzone à la CBGB bedeutet; eher eine Art Jugendzentrum, wo der brandgefährliche Gefühlsstau unbotmäßiger Teenager zur kontrollierten, staatlich sanktionierten Detonation gebracht werden kann.

Sex, Drugs & Rock'n'Roll in der Sowjetunion: für viele immer noch ein Widerspruch. Dabei fühlten sich alle Nachkriegsgenerationen der UdSSR zur unverschämt elektrisierenden Musik jenseits des Eisernen Vorhangs hingezogen. Zunächst kürte die „Stilyagi“-Bewegung Swing und Boogie zum Klangmotor des Aufbegehrens. In der Breschnew-Ära wichen ihre Blechbläser Stromgitarren, Synthesizern und Drumcomputern. Nun setzt Kirill Serebrennikows „Leto“ zwei russischen Rock-Legenden eine betörendes Filmdenkmal, dessen Beat auch Uneingeweihten ins Ohr gehen dürfte.

„No Future“ ist kein bloßer Slogan

Erste Hauptfigur ist Mike Naumenko, die Rampensau aus der beschriebenen Eröffnungsszene: Der heutige russische Rockstar Roman Bilyk spielt den Mastermind der Vorreiter-Band Zoopark als achtsam-akademischen Rebellen, der gelernt hat, seinen Freigeist ins System zu fügen: Die Behörden dulden seine Konzerte als notwendiges Übel, abends übersetzt er Texte von T. Rex, Lou Reed und den Sex Pistols ins Russische. Doch „No Future“ ist in seiner Welt kein bloßer Slogan – seine Hoffnungen auf eine Rock-Revolution schwinden Stück für Stück.

Bis Viktor Tsoi (Teo Yoo) aus dem Nichts um die Ecke biegt, hager und entrückt, mit langer schwarzer Mähne und koreanischen Zügen: ein Außerirdischer. Tsois Songs sind neu, frisch, anders, mehr New Wave als alte Schule, mehr Joy Division als Dylan. „Ich bin ein Nichtsnutz, oh-oh“, intoniert er am Strand vor Mikes Entourage, und alle singen mit. Ganz klar: Hier tönt die Stimme einer Generation in spe. Der Veteran nimmt den Frischling unter seine Fittiche – und bald verschaut sich auch Mikes Frau Natalia (Irina Starshenbaum), auf deren Memoiren der Film beruht, in den begabten jungen Mann. Für russische Zuschauer ist Tsoi, Leader der Band Kino, die vielleicht größte Ikone spätsowjetischer Gegenkultur, der eigentliche Aufhänger von „Leto“. Als Absicherung gegen Fan-Pedanterie nimmt sich Serebrennikow etliche künstlerische Freiheiten – und macht daraus keinen Hehl. Beim ersten Auftritt des Idols dreht sich eine Randfigur zur Kamera: „Der sieht ihm ja gar nicht ähnlich!“

Auch sonst neigt der Film zum Spielerischen, verwandelt sich mehrmals in einen Videoclip: Beim Liebesspaziergang knödeln triste Trambahn-Passagiere plötzlich Iggy Pops „The Passenger“, anderswo verprügelt ein Rock-Gammler böse Apparatschiks zu den Klängen von „Psycho Killer“, während Schriftzüge und Stricheleien durchs Bild flirren. Doch im Anschluss an jede Formturbulenz fährt jemand durchs Bild und notiert: „Das hat alles nie stattgefunden.“

Denn die Sowjet-Realität bot aufstrebenden Rotzpippen kaum Entfaltungsraum, und der Grundtenor des Films bleibt melancholisch. Mit seiner mild resignativen Aura – schwarz-weiße Breitwandeinstellungen, schaumgebremste Fahrten und Schwenks durch beengende kommunale Wohnungen, wo die Rocker Hauskonzerte geben – wirkt er ein wenig wie eine Pop-Version von Alexei Germans letztjährigem Berlinale-Beitrag „Dovlatov“, der das dröge Dichterdasein im Post-Tauwetter-Nebel porträtierte.

Es drohen zehn Jahre Haft

Wesentlicher Unterschied sind die Songs: Ihre romantische Flamme flackert unauslöschlich. Und setzt so ein Fanal für das Schicksal des Regisseurs: Serebrennikow, als Film- und Theaterkünstler international renommiert, liegt derzeit selbst im Clinch mit der russischen Staatsgewalt. Schon bei der Cannes-Premiere seines Films stand er unter Hausarrest. Ihm und drei weiteren Kulturvertretern wird die Veruntreuung von Fördergeldern vorgeworfen, es drohen zehn Jahre Haft. Die Situation wirkt wie eine aufwendige Coverversion des Falls Oleg Senzow, die russische Kulturszene spricht von einem symbolischen Schauprozess. Bezeichnenderweise schließt „Leto“ (Russisch für „Sommer“) nicht mit Zooparks gleichnamiger Drifterhymne, sondern mit Kinos Trübsaltreiber „Konchitsya Leto“: „Ich warte auf eine Antwort / Keine Hoffnungen mehr / Dieser Sommer neigt sich dem Ende zu.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2018)

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