Mit erhöhtem Budget geht das Crossing Europe in Linz in seine 16. Runde. Im Programm wimmelt es heuer von spannenden Frauen- und Mädchenfiguren.
Wenn der weltweite Aufruhr um den Brand von Notre-Dame eines gezeigt hat, dann, dass es aller Globalisierung zum Trotz Dinge gibt, die man als Embleme Europas bezeichnen kann – und dass ihre Beschädigung nervös macht. Doch die Debatte zum Medienereignis wirft eine dringliche Frage auf: Welches Fundament liegt den Symbolen des europäischen Kontinents zugrunde? Sind es die sichtbaren Wahrzeichen selbst, die schiefen Türme und stattlichen Dome, die die europäische Idee zusammenhalten? Oder die nie restlos fassbare „abendländische“ Kultur, der sie entsprossen sind? Sind es die sozioökonomischen „Projekte“, die Frankreichs Präsident Macron als maßgeblich für transnationalen Zusammenhalt beschwört? Die altgediente und doch junge Wirtschaftsgemeinschaft? Oder aber die Myriaden von Einzelschicksalen, die dem europäischen Fleckerlteppich sein einendes Muster verleihen?
Letzteres liegt nahe, wenn man einen Blick ins Programm des Linzer Filmfestivals Crossing Europe wirft; dieses verstand sich stets weniger als ästhetische Leistungsschau denn als Fenster zur erweiterten europäischen Welt. Heute, Donnerstag, beginnt die 16. Ausgabe. Wie immer bietet es einen erklecklichen Querschnitt durch Europas Gegenwartsfilmschaffen, mit einem Schwerpunkt auf jüngeren Positionen. Und gewährt so Einblick in Alltagsrealitäten, die von Land zu Land verschieden sind – aber entscheidende Gemeinsamkeiten aufweisen.
Hält man es mit dem Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier, der weibliche Emanzipation als Gradmesser für sozialen Fortschritt sah, so machen (und inszenieren) heuer etliche Festivalbeiträge die Probe aufs Exempel. Nada, Petra, Irina, Petrunja und Sibel heißen die Titelheldinnen von Filmen, die sich mit den (Unabhängigkeits-)Kämpfen und Nöten von Frauen in Bosnien, Spanien, Bulgarien, (Nord-)Mazedonien und der Türkei beschäftigen. „Das melancholische Mädchen“ (Regie: Susanne Heinrich) lässt sich indes durch eine knallbunt verfremdete deutsche Metropole treiben und hinterfragt dabei die Weltbilder ihrer Mitmenschen, während die neunjährige Protagonistin von Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ sich mit Händen und Füßen gegen die Obhut wohlmeinender Jugendämter wehrt.
Albanien: Kinderfilme aus der Diktatur
Eine von der Regisseurin und Theoretikerin Iris Elezi in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum kuratierte Minischau wirft Schlaglichter auf das Kino Albaniens, aufgrund jahrzehntelanger diktatorischer Abschottung des Landes kaum bekannt; im Zentrum stehen dabei die erstaunlich offenen Arbeiten der Kinderfilmschöpferin Xhanfise Keko. Die Nebenschiene „Arbeitswelten“ beleuchtet die Bemühungen von Frauen, einen Platz und eine Stimme in den modernen Leistungsgesellschaften Europas zu finden. Und Joerg Burgers „Elfie Semotan, Photographer“ – einer von traditionsgemäß fünf Eröffnungsfilmen des Festivals – porträtiert die in Oberösterreich geborene Modekünstlerin als freies Radikal ihrer Branche.
Doch das Spektrum des Crossing Europe, das dieses Jahr eine zehnprozentige Budgeterhöhung verbuchen kann, reicht noch viel weiter. Wer sucht, findet eigenwillige Kunstkinoperlen wie Thomas Heises Erinnerungsessay „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ oder Joanna Hoggs autobiografisches Liebesdrama „The Souvenir“; Tilda Swintons Tochter Honor Swinton Byrne stellt darin die Londoner Lehrjahre der Regisseurin als stilisiertes Episodenstück nach. Dafür, dass das europäische Genrekino nicht zu kurz kommt, sorgt die angestammte „Nachtsicht“ des Festivals; dort brodelt etwa der Politthriller „Sons of Denmark“, der sein Herkunftsland im Jahr 2025 als düsteren Druckkessel zeichnet: Im zugespitzten Klima nach einem Terroranschlag plant ein radikalisierter Teenager die Ermordung eines erfolgreichen Rechtspopulisten.
Crossing Europe. 25.–30.4., Linz. Einige Filme lassen sich dank Kooperationen auch außerhalb von Linz sichten: Spielboden Dornbirn (25.4., 1.5., 7.5.), Programmkino Wels (28.4.–1.5.). Wien: Votivkino (10.–16.5.), Stadtkino (9.–12.5.), /Slash Einhalb im Filmcasino (3.–4.5.).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2019)