Unsere Erde, eine Baustelle

Geyrhalter reiste an sieben Orte und dokumentierte, wie der Mensch sich tief in die Erde gräbt, baggert, bohrt.
Geyrhalter reiste an sieben Orte und dokumentierte, wie der Mensch sich tief in die Erde gräbt, baggert, bohrt.(c) Nikolaus Geyrhalter Filmprodukt
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In seinem Dokumentarfilm „Erde“ führt uns Nikolaus Geyrhalter vor, wie der Mensch die Oberfläche des Planeten verändert – und zeichnet ein Bild der Gewalt.

Rund 156 Millionen Tonnen Erdreich und Gestein, das lässt uns eine Texteinblendung am Anfang von Nikolaus Geyrhalters jüngster Dokumentation „Erde“ wissen, krempelt die Menschheit gegenwärtig täglich um. Damit sei sie „der entscheidendste geologische Faktor unserer Zeit“. In dieser Formulierung (sie ist ein Kerngedanken dessen, was in Forscherkreisen unter dem Begriff „Anthropozän“ diskutiert wird) stecken bereits einige unterschwellige Grundsatzfragen des Films: Ist der Mensch Teil der Natur, oder steht er ihr gegenüber? Und sollte dies der Fall sein (was der Ausdruck „geologischer Faktor“ nahelegt): Ist der Mensch dann für die Natur verantwortlich?

„Von Santa Barbara bewacht“

Geyrhalter-typisch wird diese Thematik in „Erde“ nur implizit erörtert. Zuvorderst bietet der Film eine eindrucksvolle Weltumwälzungstour und (Unter-)Tagbau-Schau, die in sieben Kapiteln quer durch Europa und Amerika führt und dabei meistens dem gleichen Muster folgt: Erst etablieren ein paar Überblickseinstellungen die Topografie der jeweiligen Lagerstätte oder Baustelle, anschließend kommen die örtlichen Arbeiter zu Wort.

Der ideologische Überbau der einzelnen Projekte offenbart dabei nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Im kalifornischen San Fernando Valley, wo zwecks Stadterweiterung Anhöhen abgetragen werden, zeigt sich ein Vorarbeiter stolz darauf, seinen Lebensunterhalt mit dem „Versetzen von Bergen“ zu verdienen. „Die Erde ist eine grausame Gespielin“, witzelt ein anderer. Über Konsequenzen denkt hier niemand ernstlich nach: „Wenn alle Stricke reißen, gibt es immer noch Dynamit.“ Bei Bohrungen am Brenner übt man sich dagegen lieber in Demut: „Von Santa Barbara bewacht, sind Tunnel, Stollen oder Schacht.“ Ehrfurcht habe man schon vor der Natur, aber was wären die Alternativen, fragt eine Aufseherin: „Dass wir keine Waren mehr transportieren?“

Was sein muss, muss sein. Stimmt das, ist der Mensch „natürlich“, also eine unaufhaltsame Schicksalskraft ohne Regulativ. Ästhetisch spielt der Film mit dieser im Grunde nicht sehr erquicklichen Vorstellung: Jede Episode wird mit einer himmelhohen Aufsicht eröffnet. Obwohl diesen Luftaufnahmen (wie fast allen Landschaftsbildern aus extremer Vogelperspektive) eine abstrakte Schönheit eignet, nehmen sie im Kontext des Films den Charakter von Wundmalen an: buchstäblichen Schürfwunden, übersät mit Reifenspurnarben und dem parasitären Gewusel ameisengroßer Maschinen, jede Schachtanlage ein Ausschlag auf der Haut des Planeten.

Auch aus nächster Nähe betrachtet haben all die Bagger und Bulldozer, Schaufelräder und Schlagbohrer mit ihren Symphonien des Scharrens und Schabens fast etwas Monströses. Aus Bildgewalt wird so langsam ein Bild der Gewalt, eine wahre Materialschlacht: Hautnah gefilmte Sprengungen drücken in den Kinositz, der Marmorabbau in Carrara wirkt, als würden gerade einem Riesen die Zähne gezogen. Die Äußerungen mancher Interviewpartner verstärken noch diesen Eindruck: Da werden Berge „gefressen“ oder gar Felsen ihrer „Jungfräulichkeit“ beraubt.

Stück für Stück weicht die Bedenkenlosigkeit kritischen Stimmen. Darin, dass diese dem werktätigen Fußvolk gehören, nicht den Planern und Entwicklern, liegt freilich ein politisches Moment. Ein Mitglied eines spanischen Archäologenteams philosophiert über die Spiralförmigkeit der Geschichte und das mangelnde Lernvermögen des Menschengeschlechts. Ein Abstecher in ein deutsches Salzbergwerk, wo Atommüll lange Zeit einfach in Gruben gekippt wurde, erinnert daran, dass die Abschätzung von Spätfolgen oft eine ganze Weile braucht.

Gibt es irgendwelche Grenzen?

Wie die laufenden, globalen Schülerproteste für eine neue Klimapolitik stellt Geyrhalters Film uns die Rute ins Fenster. Am Ende übertreibt er ein wenig: Das Schlusskapitel führt nach Kanada, wo Ureinwohner über die Vergiftung ihres Lebensraums durch Ölförderung klagen. „Sie tun Mutter Erde weh“, moniert einer von ihnen. So ernst es ihm damit auch sein mag, das grenzt schon hart an Ökokitsch. Stärker bleibt eine schon viel früher vernommene Aussage haften, die ohne jeglichen Botschaftseifer auskommt: „Gibt es irgendwelche Grenzen in diesem Leben? Nur die, die man sich selbst setzt, oder nicht?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2019)

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