Venedig: Wo sind die Paparazzi?

Autogramme vor der Halbzeitflaute: Regisseur Paolo Sorrentino in Venedig.
Autogramme vor der Halbzeitflaute: Regisseur Paolo Sorrentino in Venedig. (c) REUTERS (PIROSCHKA VAN DE WOUW)
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Ein weithin achtbarer Wettbewerb bewahrt die Filmfestspiele von Venedig nicht vor abruptem Besucherschwund. Das liegt auch an der Programmpolitik.

Das Publikum schrumpft. Man kann live dabei zusehen: Alle zehn Minuten steht jemand auf, schiebt sich an den Sitznachbarn vorbei und stiehlt sich aus dem Saal. Es gibt sie noch, die Filme, die vor den Kopf stoßen. Oder sind die Flüchtigen bloß müde und gelangweilt? Wie auch immer: An „The Painted Bird“ von Václav Marhoul, der am Dienstag im Wettbewerb von Venedig Premiere feierte, scheiden sich die Geister.

Viele empfanden die Verfilmung des (aufgrund von Betrugs- und Plagiatsvorwürfen umstrittenen) Weltkriegsromans von Jerzy Kosiński als Zumutung. Vor allem, weil seine Dramaturgie einer kompromisslosen Steigerungslogik folgt: Ein Bub streunt drei Stunden lang durch ein zerrüttetes Osteuropa. Kapitel für Kapitel stößt er auf neue Unmenschlichkeiten. Gewalt, Missbrauch, Holocaust: ein Panorama der Barbarei. Das verstört.

Es sei denn, man wittert Kalkül hinter dem Torturen-Parcours der tschechisch-slowakisch-ukrainischen Koproduktion, die in einer panslawischen Kunstsprache nachsynchronisiert wurde. „The Painted Bird“ mutet zuweilen an wie ein seltsam seelenloses Kompendium aller nur erdenklichen Ostblock-Kunstkinoklischees, vom parabelhaften Erzählduktus bis zur Schwarz-Weiß-Ästhetik, veredelt mit internationalen Charakterköpfen wie Stellan Skarsgård, Harvey Keitel, Julian Sands und Udo Kier. Das erschöpft.

Einige, die bis zum Schluss ausharrten, zeigten sich jedoch begeistert von der humanistischen Botschaft – und prognostizieren den Hauptgewinn, der am Samstag verliehen wird. Für Gesprächsstoff sorgte „The Painted Bird“ jedenfalls. Und markierte als letzter großer Wuchtfilm des Festivalprogramms eine Zäsur.

Die Stars sind schon weg

Derzeit wirkt es nämlich so, als hätten all jene, die ihm den Rücken gekehrt haben, auch den Lido hinter sich gelassen. Besucherschwund gegen Ende des Festivals ist nichts Ungewöhnliches: Ab heute lockt das Toronto International Film Festival, für ein Gros der Branche der nächste Pflichtpunkt im Eventkalender. Dennoch: Selten gähnte die Leere rund um den Palazzo del Casinò so früh und so unübersehbar. Besonders im Vergleich zum Wochenende, als die Veranstaltung noch aus allen Nähten platzte.

Das Star- und Prestigeaufgebot Venedigs ballte sich heuer im ersten Festivalabschnitt. In relativ kurzer Abfolge flanierten Brad Pitt, Adam Driver, Scarlett Johansson und Penélope Cruz über den roten Teppich. Joaquin Phoenix ließ sich für seine eindringliche Performance im Anti-Superheldenfilm „Joker“ abfeiern, Teenieschwarm Timothée Chalamet drehte Selfie-Runden für kreischende Fans. Und Jude Law, der außer Konkurrenz zwei Folgen aus Paolo Sorrentinos Fortsetzung seines Streaming-Straßenfegers „The Young Pope“ präsentierte, wurde angehimmelt wie der Pontifex in Person.

Bis zur Halbzeit hatten auch die meisten Regie-Schwergewichte ihre jüngsten Werke vorgestellt. Es galt schließlich, sämtliche relevanten Premieren vor Toronto-Beginn abzuhaken: A-Festival-Konkurrenz in Aktion. Resultat ist ein Einbruch nicht nur des medialen Interesses. Sogar bei Screenings von „About Endlessness“, dem neuen Weltschmerzlustspiel von Roy Andersson, der 2014 den Goldenen Löwen gewann, blieben Plätze frei. Was den wenig schmeichelhaften (aber leider nicht ganz falschen) Eindruck erweckt, die Huldigung der siebten Kunst sei in der Filmfest-Oberliga nur Vorwand für Glamour und Geschäft.

Ein saudisches Drama

Sei's drum: Trotz der Aufmerksamkeitsschlagseite hielt sich die Qualität des Wettbewerbs bislang recht konstant. Auch weniger bekannte Namen ließen mit ihren Beiträgen aufhorchen. In „The Perfect Candidate“ schickt die saudiarabische Regisseurin Haifaa Al Mansour eine von den patriarchalen Strukturen ihres Landes frustrierte Ärztin in den Lokalwahlkampf. Mit viel Energie und nicht ohne Humor erzählt der Film von privaten und gesellschaftlichen Hürden, die persönliches Politengagement erschweren – und sich selten mit einem Satz überspringen lassen. Ungeachtet aller sozialen Eigenheiten seines Schauplatzes erreicht das Drama eine erstaunliche Universalität.

Ästhetisch bestach indes „Martin Eden“ von Pietro Marcello, einem Hoffnungsträger der italienischen Cinephilie. Er verpflanzt Jack Londons Schlüsselroman von von Kalifornien nach Neapel. Auf den ersten Blick spielt die Ballade vom Aufstieg und Fall eines ehrgeizigen Autors aus dem Hafenproletariat am Anfang des 20. Jahrhunderts – doch anmutig eingeflochtenes Archivmaterial und unaufdringliche Anachronismen heben die Zeit aus den Angeln. In betörenden 16-mm-Bildern verhandelt das intime Epos die Unvereinbarkeit von individuellem Aufstiegswillen und Gemeinschaftswohl.

Fünf Wettbewerbsbeiträge harren noch ihrer Uraufführung. Darunter ein Film mit Robert Pattinson und Johnny Depp. Letzterer ist zwar auch kein lupenreiner Blitzlichtmagnet mehr. Aber vielleicht lässt sich der eine oder andere Paparazzo erweichen. Und bucht einen Rückflug nach Venedig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2019)

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