Selten herrschte in Cannes solche Uneinigkeit über die Favoriten des Bewerbs. Die Mechanismen hinter der Goldenen Palme und die Spekulationen zur Preisvergabe.
Der letzte Sonntag in Cannes gilt exklusiv der Spekulation über die Sieger, die bei der Abendgala bekannt gegeben werden. Es laufen nur noch Wiederholungsvorstellungen, die verbliebenen Journalisten halten lieber Ausschau nach Wettbewerbsteilnehmern: Denn wer am Tag der Preisvergabe zurückgekehrt ist, hat eine Einladung zur Zeremonie erhalten und bekommt eine Auszeichnung – nur welche? Das Spiel dauert bis zu den letzten Momenten der Gala: Wer zuletzt übrig ist, darf die begehrte Palme d'or in Empfang nehmen.
Außer, es wäre Lars von Trier: Der Däne ist ja von Cannes zur „Persona non grata“ erklärt (und vom Festival verbannt) worden, nachdem seine übliche Provokation bei der Pressekonferenz zum Medienskandal aufgebauscht wurde. Seit Jahren rüttelt von Trier am Watschenbaum, heuer ist er mit der – zwar aus dem (zugegebenermaßen: wirren) Zusammenhang gerissenen – Ansage „O.k., ich bin ein Nazi!“ zu weit gegangen. Zugleich saß der serbische Regisseur Emir Kusturica, umstritten als Apologet der Kriegsverbrecher Karadžić und Milošević, in einer Nebenbewerbsjury und erhielt den französischen Ritterorden der Ehrenlegion, während nur ein Vertreter von Triers zur Zeremonie kommen darf, falls dessen Bewerbsbeitrag Melancholia prämiert wird: So funktioniert eben das opportunistische Zusammenspiel von Kultur, (Festival-)Politik und Medienhysterie.
Jury: „Die Geschichte wird euch richten!“
Bei der Preisvergabe spielen vergleichbare Faktoren mit, der entscheidende ist aber unvorhersehbar: die Chemie der Wettbewerbsjury. Eine provokative Jury würde von Trier jetzt erst recht auszeichnen, der heurige Präsident Robert De Niro gilt aber als Mann fürs Verbindliche: „Jeder Film kann da die Palme kriegen“, war einer der häufigsten Journalistensätze. Publikumslieblinge wie der französische Stummfilmkomik-Tribut The Artist, das arabische Kitsch-Märchen The Source oder der virtuos inszenierte US-Actionfilm Drive gelten als genauso chancenreich wie künstlerisch Ambitioniertes, etwa von Triers Depressionsdrama oder The Tree of Life, das kosmische Familienepos von Hollywood-Legende Terrence Malick, dessen Premiere das Ereignis der 64.Cannes-Edition war. Die Gerüchtebörse behauptet, Festivalchef Thierry Frémaux habe der Jury gar gesagt: „Die Geschichte wird über euch richten, wenn ihr Malick nicht die Goldene Palme gebt!“
Konsensfavorit der Filmkritik – deren Preis er schon am Samstag erhielt – ist Finne Aki Kaurismäki mit seiner wohlwollend aufgenommenen, bewährt lakonischen Immigranten-Tragikomödie Le Havre. Es wäre, was Insider einen überfälligen „Lebenswerkspreis“ für einen soliden, wenn auch nicht vollends begeisternden Autorenfilm nennen, wie zuletzt 2006 beim Briten Ken Loach mit The Wind That Shakes the Barley: Denn bisher ist Kaurismäki ohne Palme (wie noch ein renommierter Konkurrent, Pedro Almodóvar). Zwar behielten die Kritiker im Vorjahr recht, als ihr thailändischer Favorit Uncle Boonmee siegte, aber das ist die Ausnahme: Denn Jurys beurteilen die Filme letztlich mit ganz anderem Hintergrundwissen und Zugang als professionelle Schreiber.
Eine wichtige Rolle in der Preispolitik spielt dagegen die regionale Aufteilung. Nur die dominierenden Filmländer USA und Frankreich (und einst: Italien) können auf Cannes-Seriensiege zurückblicken, sonst gibt es eine Art Kontingenttaktik: Der Vorjahrssieg für Asien macht also einen „politischen“ Hauptpreis für die beiden japanischen Wettbewerbsfilme (auch als Solidaritätsstatement für die von Katastrophen erschütterte Nation) unwahrscheinlich.
Österreicher-Preise? Einer ist schon da!
Auch beim heimischen Wettbewerbsfilm Michael von Markus Schleinzer ist zu bedenken, dass der Österreicher Michael Haneke erst vor zwei Jahren gewonnen hat (wenn auch mit der deutschen Produktion Das weiße Band). Schleinzers kleiner, kontroverser Film über einen Pädophilen ist aber ohnehin eher ein typischer Spezialpreiskandidat – der exzellente Hauptdarsteller Michael Fuith wäre auch eine Option. Ein Preis ist Österreich aber schon sicher: Atmen, das in einer Nebensektion gezeigte Regiedebüt von Schauspieler Karl Markovics, erhielt den Verleiherpreis „Label Europe Cinema“ – und ist wie Michael noch im Rennen um die „Camera d'or“den besten Erstlingsfilm.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2011)