"Freud war ein größerer Realist als Jung"

Nächste Woche startet der Film "A Dangerous Method" über Sigmund Freud und Carl Jung. Regisseur David Cronenberg erzählt über die historischen Hintergründe, Freuds Angst um die psychoanalytische Bewegung und die jüdische Prägung.

In Ihrem Film „A Dangerous Method“ schildern Sie die Beziehung zwischen Sigmund Freud und Carl Jung durch das Verhältnis zu einer dritte Person: Die Patientin und spätere Psychoanalytikerin Sabina Spielrein. Einer der faszinierendsten Aspekte des Films ist die Betonung des jüdischen Hintergrunds der Psychoanalyse: Immer wieder debattieren Freud und Jung darüber. Haben Sie das bewusst herausgearbeitet?

David Cronenberg: Das war gar nicht nötig, alles war schon da. Diesen Film zu machen war für mich ein Prozess der Wiedererweckung. Ich wollte mich dem Stoff nicht mit vorgefassten Ansichten nähern: Es gab keinen Grund, Sabina Spielrein zu einer feministischen Ikone oder Märtyrerin zu machen. Oder Freud negativ zu zeigen und Jung positiv – oder umgekehrt. Ich wollte sie so zeigen, wie sie waren. Und das Jüdische war ein entscheidender Faktor in der Beziehung zwischen Freud und Jung. Wie ich auch im Film zeige, hatte Freud Angst, dass die psychoanalytische Bewegung als jüdisches Ding abgetan wird – als jüdischer Mystizismus, eine Trickserei. Wenn ein aufrechter deutsch-schweizerischer Protestant wie Jung die Bewegung weiterführte, hätte das diese Vorwürfe entkräftet. Also musste Freud jemanden wie ihn finden, um die Psychoanalyse zu schützen. Natürlich war Jung auch brillant und charmant, attraktiv und charismatisch – all das, was Freud zu brauchen glaubte. Doch es war am wichtigsten, dass er nicht jüdisch war.

Genau diese Art von Vorurteilen hat ja später Spielrein in der Sowjetunion zerstört.

Ja, es gibt diesen schockierenden Moment im Stück „A Talking Cure“ von Christopher Hampton, der Vorlage für meinen Film – eine Vorausblende zu Spielreins Ermordung durch die Nazis. Aber das schien mir zu stark, um es in die Mitte des Films zu geben: Danach könnte man ihn nicht mehr mit denselben Augen sehen. Jetzt gibt es nur am Ende diese Schrifttafel, das finde ich schon schockierend genug.

Diese jüdischen Themen treten in Ihrem Werk erst seit Kurzem in den Vordergrund: Vor „A Dangerous Method“ haben Sie den Kurzfilm „At the Suicide of the Last Jew in the Last Cinema in the World“ gemacht und selbst die Titelrolle interpretiert. Auch in Ihrem letzen Spielfilm „Eastern Promises“ spielt jüdische Identität am Rand herein.

Das stimmt. Für viele jüdische Künstler ist das Judentum ja ihr Hauptthema: Für Philip Roth, Saul Bellow, sogar für Woody Allen und bis zu einem gewissen Grad Spielberg ist das ein wichtiges Sujet. Ich erachte es auch als wichtig, aber für mich ist es einfach da: etwas, das existiert. Ich bin zwar auch jüdisch, aber zugleich Atheist, das ist ganz weltlich: Ich habe also keine Beziehung zur jüdischen Religion. Es ist eine kulturelle Angelegenheit und einfach nicht mein Thema. Aber wenn es in einen meiner Filme hereinspielt, habe ich zweifellos immer ein persönliches Verhältnis dazu. Ich war selbst überrascht, als Cannes mich einlud, einen Kurzfilm zu machen, worüber ich wollte – und als ich zu schreiben begann, kam so etwas heraus. Es war unerwartet für mich, aber nicht etwa so, dass ich dann dagegen angekämpft hätte!

Im Interviewbuch „Cronenberg on Cronenberg“ sagen Sie, Ihre Eltern hätten „ihre eigene Form des Jüdischseins“ erfunden.

Habe ich das wirklich gesagt? Das war sehr clever von mir! (Lacht.) Meine Eltern waren Atheisten, aber ich glaube nicht, dass sie mir gegenüber je das Wort „Atheist“ verwendet haben. Sie versuchten nicht, mich vom Judentum oder der jüdischen Religion wegzuführen – oder dazu hin. Ich erinnere mich, wie sie mir noch als ganz kleinem Kind sagten: „Weißt du, manche Leute glauben an Gott und andere tun es nicht. Das wirst du für dich selbst entscheiden.“ Aber sie sagten nie: „Wir glauben nicht an Gott, also solltest du das auch nicht.“ Sie waren Künstler: Mein Vater war Autor, meine Mutter Pianistin. Es gab immer Musik und Bücher im Haus, eine intellektuelle Atmosphäre. Es gab nicht sehr viele Familien dieser Art in Toronto, wo wir lebten. Das meinte ich wohl mit ihrer Erfindung: Ihre Vision vom Leben war eher artistisch, Religion spielte keine Rolle. Aber es war ganz undogmatisch. Damals waren die interessantesten Leute unter Torontos Intellektuellen Kommunisten und Linke: In Kanada war das nicht illegal so wie in den USA. Wir hatten eine kommunistische Partei, und die aufregendsten Denker waren begeistert von Sozialismus, Kommunismus und dem sowjetischen Experiment – sie wussten nicht, was Stalin für ein Monster war. Meine Eltern waren aber nicht wirklich politisch, auch wenn sie viele kommunistische Freunde hatten. Das meinte ich mit den spezifischen Umständen meiner Familie: Es war sehr süß, warm und liebevoll – und intellektuell anregend.

Sie sind sehr fasziniert von der österreichischen Vor- und Zwischenkriegs-Kultur?

Ja, Viggo Mortensen und ich lasen viel, etwa Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“. Das Buch erhellt nicht nur die Periode, vor der mein Film spielt, sondern auch jene danach. Zweig erzählt, wie er Freud am Ende seines Lebens in London trifft: Er ist noch immer gut aussehend, maskulin, charmant und charismatisch, trotz seiner Krankheit. Das gab mir das Gefühl, Viggo könnte ein guter Freud sein: Denn normalerweise wird er nicht so beschrieben, wir haben dieses großväterliche Bild im Kopf, wo er sehr streng wirkt. Und heute können sich die Leute kaum mehr vorstellen, was für eine Katastrophe der Erste Weltkrieg war. Weil danach so viele Kriege kamen, sind wir zynisch geworden: Wir wissen, dass Menschen sehr leicht Barbaren werden können. Aber damals hatte man das Gefühl einer großartigen europäischen Zivilisation: Die Menschheit entwickelte sich vielversprechend – Vernunft und Rationalität konnten jedes Problem lösen. Undenkbar, dass diese Europäer wie Barbarenstämme aufeinander losgehen würden mit Morden und Gräueltaten. Undenkbar – und dann ist es passiert. Darüber schreibt Zweig, und es ist auch, was Freud vorhergesagt hat: Lasst euch nicht von dieser dünnen Schicht der Zivilisation täuschen. Dahinter gibt es sehr starke Kräfte, die zerstörerisch wirken, die wir anerkennen und zu verstehen versuchen sollten – oder sie werden uns vernichten. Genau das war der Erste Weltkrieg. Ich denke, nichts davon hat Freud überrascht: Für viele war es ein großer Schock, der ihren Idealismus zerstörte. Die Menschheit hatte sich so schön entwickelt und Mitteleuropa wirkte wie der Ort, wo sich das am besten bewahrheitet hatte.

Das arbeitet Ihr Film sehr deutlich heraus.

Danke! Das war mir ein Anliegen, denn man verliert es leicht aus den Augen. Die Leute glauben, sie kennen Freud und die Psychoanalyse, da würde das Übliche kommen, keine große Sache. Ich denke, das ist eine der wertvollsten Aspekte des Films: Den Leuten näherzubringen, wie revolutionär das Konzept damals war. Die Burghölzli-Klinik war sehr weit fortgeschritten für die damalige Zeit. Eher wie ein Dorf, nicht bloß ein einziges Gebäude, mit schönen Orchideengewächsen und Waldwegen: Die Patienten wurden ermutigt, dort spazieren zu gehen und sich den Zürichsee anzuschauen – ruhig sein, im Einklang mit der Natur. Aber selbst dort hörte man nicht darauf, was die Patienten sagten: Denn sie galten als Verrückte, also verordnete man ihnen kalte Bäder und Beruhigungsmittel. Freud jedoch meinte: Ihr müsst denen zuhören! Nicht den Schizophrenen oder den echten Psychopathen, aber den Mittelklasse-Neurotikern. Die sind gebildet und können reden: Hört ihnen zu und sie werden euch sagen, was ihre Probleme sind. Vielleicht nur kodiert oder in Puzzleform. Denn was ist ihr Problem? Sie wollen diese Dinge sagen, aber zugleich haben sie Angst, es auszusprechen. Deswegen ist die Darstellung von Keira Knightley als Spielrein so: Sie versucht zu reden, aber sie hat Angst vor diesen Worten. Also versucht sie, sich selbst am Sprechen zu hindern: Es ist der Schlüssel zur Art, wie sie spielt.

Freud strebt im Film aber keine direkte Verbindung an. Er sagt zwar: Wir müssen, den Patienten Raum geben, um zu reden. Aber Jung ist derjenige, der wirklich heilen will.

Das ist sehr interessant: Jung wollte heilen, aber sehen Sie mal, wo es ihn hingeführt hat! Zu einem arischen Mystizismus und Symbolismus und etwas, das ich als Religion bezeichnen würde: Diese ganze Idee der Selbstverwirklichung! Freud war der größere Realist. Er sah den Weg zur Gesundheit darin, herauszufinden und zu verstehen, wer wir wirklich sind – nicht vorzugeben, wir könnten darüber hinausgehen, um etwas zu werden, was wir gar nicht werden können. Wohingegen Jung sagte: Doch, wir können uns transzendieren, etwas anderes werden. Es hängt davon ab, was man für wertvoller oder realistischer hält: Für manche Menschen funktioniert die Jung'sche Analyse, für andere die Freud'sche. Jung sagte sogar, die Freud'sche Analyse würde nur bei Juden funktionieren! Selbst er würde wohl eine Grenze ziehen, inwieweit seine Analyse zu etwas gut ist. Schwer zu sagen. Freuds Ansicht war ja: Wir heilen nicht wirklich – denn worunter die Patienten leiden, ist ihre Menschlichkeit. Und man kann einen Menschen nicht von seiner Menschlichkeit kurieren. Das scheint mir realistischer und eine bessere Art, das Leben anzugehen. Aber man kann vorgeben, ein Gott zu sein, und so ist es Jung ja zuweilen gegangen: In seinen Visionen war er ein Gott!

Ihrem neuen Film wird teils vorgeworfen, er sei nicht „cronenbergisch“ genug. „A Dangerous Method“ widmet sich aber wie Ihr Rennfahrerfilm „Fast Company“ und Ihr Melodram „M Butterfly“ eindeutig Ihren Kernthemen – nur eben ohne Transformationsbilder wie in Ihren Horrorfilmen: Veränderungen, die aus der Diskrepanz zwischen Körper und Geist entspringen und ihre Auswirkungen auf die zivilisierte Gesellschaft.

Das sehe ich auch so – obwohl ich stets betone, dass ich bei der Arbeit an einem neuen Film nicht über mein bisheriges Werk nachdenke. Natürlich, Fans meiner frühen Horrorfilme fühlen daher, als sei so etwas nicht von mir: Das scheint mir ein engstirniger Begriff von dem, was ich mache. Würde ich lange genug leben, würde ich 1000 Filme machen, die alle möglichen verschiedenen Richtungen einschlagen – aber alle wären natürlich von meiner Persönlichkeit geprägt. Über das muss ich mir gar keine Sorgen machen.

Wäre unter diesen 1000 Filmen – oder jedenfalls den ersten davon – auch endlich der Ferrari-Film, den Sie so lange planen?

Den würde ich noch immer irrsinnig gerne machen. Heute früh habe ich das Qualifying für den Grand Prix in Indien versäumt, weil ich Interviews gebe. Ich habe mich für Sie geopfert!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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