Eine Konkurrenz der großen Darstellerinnen. Huppert übernimmt sich im Filipino-Drama „Captive“, Nina Hoss brilliert im deutschen Wettbewerbsfavoriten „Barbara“. Daneben bewegt der Österreicher Peter Kern.
Irgendwo liegt der gute Film dann doch begraben auf der Berlinale. Irgendwo unter vielen zweckgebundenen „Events“ auf diesem so verzweifelt nach Bedeutung ringenden Festival. Da darf das Kino nicht mehr nur Kino sein, sondern muss zum „Cinema for Peace“ werden, zum Botschafter eines diffusen Friedensbegriffs. Und weil Angelina Jolie nicht nur einen sehr amerikanischen Film über den Bosnien-Krieg gedreht hat (In the Land of Blood and Honey),sondern auch noch Superstar ist und gut aussieht, bekommt sie dafür einen Friedenspreis verliehen. Ein paar Ecken weiter wird gekocht, im Kino und im Genusszelt, wo man sich für ein paar Euro mehr Gourmetmenüs wie Gourmetfilme einverleibt. „Kulinarisches Kino“ heißt die obskure Nebenschiene: Das klebrige Filmwerk kann man sich anschließend mit edlen Tropfen, wenn schon nicht aus dem Hirn, dann zumindest aus den Zahnzwischenräumen spülen.
Blanker Hintern vor dem roten Teppich
Dass sich das Kino selbst genügt, glaubt hier anscheinend niemand mehr. Die, die es doch tun, ziehen sich die Hosen runter und halten Berlinale-Direktor Dieter Kosslick den blanken Hintern ins Gesicht: Mit der Aktion wollte der Münchner Filmemacher Klaus Lemke bei der Eröffnungsparade über den roten Teppich dagegen protestieren, dass sein neuer Film nicht auf das Festival eingeladen wurde. Gesehen hat es kaum jemand, lustig war es trotzdem. Lemkes Kollege Christian Petzold durfte seinen Film Barbara hingegen im Wettbewerb zeigen. Die Titelheldin ist eine Ärztin im Ostberlin des Jahres 1980. Sie will raus aus der DDR, zu ihrem Mann in den Westen. Ihr Ausreiseantrag bringt nur die Strafversetzung: Statt an die Berliner Charité muss sie in ein Provinzkrankenhaus.
Hauptdarstellerin Nina Hoss beweist sich in ihrem vierten Film mit Petzold endgültig als perfekte Entrückte im unheimlich materialistischen Universum des Regisseurs. Immer scheint sie mit einem Bein in einer anderen Welt zu stehen, wird ganz Gespenst, ganz Kino. Petzolds Film ist bis ins letzte Detail kontrolliert: Jedes Bild und jeder Ton – und sei es das Klappern eines alten Fahrrads – bauen mit an dieser bruchlos hochgezogenen Anderswelt, durch die Hoss surft, als sei sie darin geboren worden.
Einer anderen Großen von Europas Kino kann man auf der Berlinale hingegen beim Scheitern zusehen. Es ist fast wohltuend, dass Isabelle Huppert vor einer Rolle in die Knie gehen muss. Im Wettbewerbsfilm Captive verschleppt sie der philippinische Regisseur Brillante Mendoza in den Dschungel seiner Heimat. Als christliche Missionarin wird Huppert von islamistischen Terroristen entführt und über ein Jahr als Geisel durchs Buschwerk gescheucht. Mendoza spürt der Dos-Palmas-Entführung aus dem Jahr 2001 nach, aber die Versuchsanordnung scheitert: Das nur an einigen Punkten verankerte und sonst dem improvisatorischen Freiflug überlassene Drehbuch mündet in ewig gleichen Bildern von Schusswechseln, Nachtlagern und kreuchenden Dschungelviechern.Der Film taumelt wie ein angeschossenes Monstrum zwei Stunden lang orientierungslos über die Leinwand. Huppert wechselt im Minutentakt von expressionistischem Panikgeschrei zu impressionistischer Selbstversunkenheit; in den strengen Naturalismus platzt knapp vor Ende ein vielfärbig schimmernder, computeranimierter Urwaldvogel.
Der Papstbesuch als Pop-Inszenierung
Stimmiger sind zwei Premieren in Nebensektionen, die sich im weitesten Sinn mit Glaubenssystemen beschäftigen: Der deutsche Edeldokumentarist Thomas Heise begleitet in Zur Lage die generalstabsmäßigen Vorbereitungen für den Deutschlandbesuch des Papstes. Eine Armee an Organisierenden und Verwaltenden, Verrichtenden und Schleppenden baut mit an dieser Pop-Inszenierung. Heises kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder bieten ein Panoptikum des Scheins, einen kühnen Blick hinter die Kulissen, der immer wieder auf jenen rastet, die hinter Absperrgittern und neben Bühnen stehen.
Vielleicht könnte sich Heise für die in Glaube, Liebe, Tod vom Österreicher Peter Kern vorgeschlagene Universalreligion begeistern. Kern selbst spielt in seinem Film den übergewichtigen, zuckerkranken Peter, der mit seiner Mutter auf einem Hausboot mit Motorschaden über einen See treibt. Ein dort versteckter junger Marokkaner zerrt die Xenophobie der Alten und die Liebessehnsucht ihres Sohns an die Oberfläche. Kern inszeniert einen zeitlosen Film zur Zeit, romantisch, poetisch, grausam. Am Schluss steckt ein Messer im Rücken der Unschuld, während die vom Internet ausgespuckten Bilder von globalen Konflikten das kleine Bootsmelodram zur Welttragödie ausweiten. Dann weinen alle, und das Kino ist wieder ganz bei sich selbst: Es ruht in seinem Kern.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2012)