Berlinale: Die Mondnazis erobern Berlin

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Bei der 62. Berlinale war eine sanfte Kurskorrektur zu bemerken: Der zuletzt kritisierte Direktor Dieter Kosslick ließ wieder mehr Kunst in den Wettbewerb – und wurde prompt dafür attackiert.

Plötzlich kommt Bewegung in den Raum. Erst tröpfeln Menschen aus dem Saal, schieben sich mit einem geflüsterten „Entschuldigung“ durch das Projektorlicht. Später werden es mehr und mehr. Sie fliehen vor dem portugiesischen Wettbewerbsbeitrag, der gerade der Presse gezeigt wird: „Tabu“ ist eine Inversion von F.W. Murnaus gleichnamigem Abenteuermelodram von 1931. Da wurde ein südpazifisches Liebespaar auf einer Insel von westlichen Kolonisten unterdrückt, Regisseur Miguel Gomes erzählt in „Tabu“ von einer Liebe unter Weißen im Kolonialafrika Mitte des 20.Jahrhunderts, scharf kontrastiert von zeitgenössischen Bildern aus Lissabon. Dort lebt Frau Aurora in einer schmucklosen Wohnung: Ihr Vermögen ist verspielt, nur ihr bourgeoises Gehabe und rassistische Untergriffe gegen die kapverdische Haushälterin erzählen von ihrer Vergangenheit als Weiße im exotischen Land.

Miguel Gomes misstraut klassischer Schauspielführung und anderen inszenatorischen Konventionen: Seine Figuren rezitieren die Dialoge statt sie zu sprechen, seine Bilder stilisiert er zu schwarz-weißen Schönheiten irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart. „Tabu“ ist als Film ein mehrstimmiger Sprechgesang über Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, näher an folkloristischen Erzähltraditionen als an kommerzialisierter Spielfilmdramaturgie. Als Zuschauer muss man sich einlassen können auf den eigentümlichen Rhythmus dieses Stücks, das völlig unerwartet im Berlinale-Wettbewerb gelandet ist. Vielleicht ist die Präsentation von „Tabu“ auch ein Indikator für Nachjustierungen der zuletzt ins kritische Kreuzfeuer geratenen Berlinale-Programmatik der Ära Kosslick.


Mehr Kunst statt Kunstgewerbe. Alles, was nicht problem- oder reizthematisch ergiebig oder mit international bekannten Schauspielern besetzt war, hatte unter Kosslick geringe Chancen, überhaupt ins Rennen um den Goldenen Bären eingeladen zu werden. Der Wettbewerb ist zur Plattform für abgehangenes Kunstgewerbe verkommen: ein Schaulaufen für die Katja Riemanns und Moritz Bleibtreus dieser Welt, eine kulturelle Veranstaltung ohne jede kulturelle Relevanz.

„Tabu“ ist nicht der einzige Wettbewerbsfilm, der den vielen Entertainment-Journalisten heuer den Glamour verleidet. Das spirituelle Drama „Meteora“ vom jungen Griechen Spiros Stathopoulos erzählt in langen Einstellungen und mit Animationseinlagen von der Liebe zwischen einer Nonne und einem Mönch. Die Italo-Regiebrüder Taviani lassen in „Cäsar muss sterben“ Shakespeares „Julius Cäsar“ von Häftlingen nachspielen. Zu beobachten ist die Öffnung der Konkurrenz hin zu digitalen Off-Produktionen sowie die schrittweise Ersetzung von Kunstgewerblichem durch Kunstkino.

Angedeutet hat sich der zugegebenermaßen sanfte und definitiv nicht vollinhaltliche Paradigmenwechsel vor zwei Jahren: Da hievte die Programmkommission Wakamatsu Kôjis „Caterpillar“ in die Konkurrenz, ein Film über einen heimgekehrten Soldaten, der alle Glieder verloren hat – er ist nur mehr Rumpf. „United Red Army“, die vorige Arbeit des japanischen Regisseurs, lief noch im „Forum“, der unkommerziellsten und wagemutigsten Berlinale-Nebenschiene. Heuer sind mit „Tabu“, „Meteora“ oder Ursula Meiers naturalistischer Kinderstudie „Sister“ mehrere Filme im Wettbewerb, die früher typisch fürs „Forum“ gewesen wären.


Doris Dörrie protestierte. Die Entwicklung blieb auch in der deutschen Filmszene nicht unbeobachtet: Regisseurin Doris Dörrie hat sich öffentlich beschwert, dass die heurige Konkurrenz zu wenig kommerziell, zu avantgardistisch sei. Vielleicht spricht aus Dörrie, die 1985 mit der Beziehungskomödie „Männer“ Erfolg hatte, verletzte Eitelkeit: Ihr neuer Film „Glück“ kam nur in eine der unbeliebten Resteverwertungssektionen der Berlinale. Immerhin ist Dörrie dort in hochkarätiger Gesellschaft: Meryl Streep ließ sich durch einen Lebenswerkpreis von der „Gebt mir den Oscar!“-Kampagne in US-Talkshows ablenken und präsentierte ihr Thatcher-Dramolett „The Iron Lady“ persönlich in Berlin. Indiens Superstar Shah Rukh Khan reiste für die Deutschlandpremiere des soliden Bollywood-Actionthrillers „Don 2 – The King is Back“ an: Gut gemachtes Genrekino wie diese mit Verfolgungsjagden, Explosionen und knackigen Charakteren gespickte Tour de Force durch die indische Unterwelt wird gewöhnlich vom traditionell kunstsinnigen Wettbewerbskosmos ausgeschlossen.

Es geht nach wie vor um die Pflege eines ästhetisch wie kommerziell überholten Kunstbegriffs: eine scharfe Trennung in anspruchsvolle und unterhaltsame Filme. Eine verunglückte spanische Hitchcock-Nachlese („Childish Games“) und zwei Historienstücke (Benoît Jacquots sehenswerter Eröffnungsfilm „Lebewohl, meine Königin“ und der dänische Pomp „Die Königin und ihr Leibarzt“) schafften es zwar als Genre-Repräsentanten ins Bären-Rennen. Preischancen haben sie aber nicht, glaubt man den diversen Kritikerspiegeln: In ihren Listen thront „Barbara“ vom Deutschen Christian Petzolds mit „Tabu“ und „Shakespeare muss sterben“ weit oben. Bei den Darstellerinnen ist Nina Hoss („Barbara“) Favoritin, hat aber mit Isabelle Huppert („Captive“) und Birgit Minichmayer starke Konkurrenz. Die Österreicherin spielt in Matthias Glasners bildgewaltigem Norwegen-Drama „Gnade“ eine erschütterte Familienmutter, die nach einem Unfall alles infrage stellt.

Ein Gewinner der diesjährigen Berlinale stand dafür bereits kurz nach Festivalbeginn fest: „Iron Sky“, eine vom Finnen Timo Vuorensola inszenierte internationale Koproduktion, sorgte bei angereisten Verleihern und Filmeinkäufern für offene Münder und strahlende Augen. Vielleicht, weil die 7,5 Millionen Euro teure Science-Fiction-Extravaganz der seltene Fall von Kommerzkino ist, der aufgrund seiner himmelschreiend wüsten Thematik schon wieder Arthouse-tauglich erscheint.


Nazi-Kampagne für Sarah Palin. „Iron Sky“ spinnt eine Trash-Historie von Nazis, die sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im Raumschiff ins Weltall absetzen und auf der dunklen Seite des Mondes eine neue Heimat finden. Gut 70 Jahre später bereitet der neue Führer Wolfgang Kortzfleisch (gut aufgelegt: Udo Kier) die Rückeroberung der Erde vor: Doch mangelt es dem gewaltigen Mutterschiff „Götterdämmerung“ an Energie, um abzuheben. Die Lösung fällt den Nazis als afroamerikanischer Astronaut vor die Füße: Dessen iPhone-artiger Minicomputer ist der Mondnazi-Technik weit voraus. Also sollen zwei SS-Offiziere mehr davon besorgen. Solange „Iron Sky“ im Weltall spielt, gibt es solide Genreparodie. Nach der Landung auf der Erde entwickelt sich der potenzielle Kultfilm allerdings zur ärgerlich eindimensionalen Politgroteske mit primitiven Parallelen zwischen nationalsozialistischer und heutiger Politpropaganda. Eine Sarah Palin zum Verwechseln ähnliche US-Präsidentin spannt die Mondnazis als PR-Agenten für den Wahlkampf ein, bevor sie ihr Weltraumkampfschiff USS George W. Bush in den Krieg schickt.

Statt Subversion setzt es plumpe Ironie mit dem Feinschliff von Michael Moore, statt schlechtem Geschmack dominieren gute Effekte. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist „Iron Sky“ wohl ein Präzedenzfall für die schreckstarre Filmindustrie: Denn gut eine Million Dollar des Gesamtbudgets wurde via „Crowdfunding“ lukriert. Vuorensola nutzte das Vergemeinschaftungspotenzial im Internet in noch nie dagewesener Weise für die Finanzierung seines „Fanfilms“: Der Kauf von „Kriegsanleihen“ und anderen Unterstützerpaketen von der offiziellen Homepage machte die User zu Mitproduzenten.


Von Internetfans mitbestimmt. Im Netzwerk wreckamovie.com konnten Fans in Dialog mit den Machern treten und bei der Bewältigung von Problemen (wie der deutschen Grammatik) assistieren. Vielleicht ist „Iron Sky“ auch wegen der Produktionsgeschichte ein so aalglatter, nach allen Seiten abgesicherter Film geworden, der mit den behaupteten Kultfilmvorbildern weniger gemein hat als mit Michael Bays „Transformers“-Trilogie. Auf dem der Berlinale angeschlossenen Filmmarkt erhielt der Finnen-Trash jedenfalls einen gehörigen Energieschub. Dieser European Film Market (EFM) ist einer der wichtigsten Umschlagplätze für Filme, damit auch ein Gradmesser für die Industrie. Erste Resümees heuer waren positiv, gut verkauften sich vor allem große Actiontitel wie „The Tomb“ mit Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone oder Arthouse-Knaller wie eben „Lebewohl, meine Königin“.

Produktionen ohne eindeutigen Marktwert oder eingebautes Publikum haben es schwerer. Am EFM lief etwa der neue Film von Japan-Eklektiker Miike Takashi: „Ace Attorney“, die Adaption eines populären Nintendo-Videospiels, überträgt dialoglastige Spielmechanik und Manga-beeinflusste Ästhetik samt kubistischen Haarfrisuren gekonnt auf die große Leinwand. US-Exzentriker Vincent Gallo tanzte sich indes durch eine italienische Minimal-Electro-Variation der „Legend of Kaspar Hauser“, der französische Musiker und Regisseur Quentin Dupieux erzählte in „Wrong“ surreal von einem Mann, der seinen Hund verliert und in die Fänge eines ominösen Gurus gerät.

Am nachhaltigsten wirkte aber eine Horror-Anthologie der jungen Wilden des US-Genrekinos wie Ti West und Adam Wingard: In „V/H/S“ verbeugen sie sich vor der radikalen Intimität von Heimvideobildern und ringen dem ermüdeten Wackelkamerazirkus etliche innovative Schreckminuten ab. Zu sehen, wie sich ein Serienkiller über Digitalartefakte einer handelsüblichen Kamera „fortpflanzt“ und seine Opfer im Bild wie im wirklichen Leben meuchelt, war einer der großen Momente des heurigen EFM. Und weil jedes Segment des Episodenfilms eine klare Autorenhandschrift hat, wäre „Crowdfunding“ wohl keine taugliche Finanzierungsmöglichkeit gewesen. Je mehr Leute mitreden, desto verwässerter das Ergebnis, je mehr Visionen unter ein Dach gepackt werden müssen, desto weniger visionär der Film. Wie zum Beweis punktet der ästhetische Absolutismus von „V/H/S“ mit radikaler Irritation, während „Iron Sky“ basisdemokratisch gegen die Wand fährt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2012)

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