Film „England's Dreaming“: Proleten, Pop und Parodisten

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Im Februar widmet sich das Filmmuseum dem Briten-Kino der Swinging Sixties. Von den Angry Young Men über James Bond zum Empire in Ruinen.

Ist ja irre!“ Das war der deutsche Titel für Englands populärste Komödienserie, die „Carry On“-Filme: Von 1958 bis 1978 (es gab noch einen Nachzügler 1992) parodierte man im Geiste der nationalen Music-Hall-Tradition populäre Genres und britische Institutionen. Und wurde selbst zur Institution: Die „Carry On“-Komödien dominierten das englische Box Office, eine „Britcom“-Erfolgswelle half der britischen Kinoindustrie, die in den 1950ern – auch wegen der Konkurrenz des Fernsehens – empfindliche Besucherrückgänge verzeichnet hatte.

Gegen Ende der Dekade lockerten sich auch die Zensurbestimmungen: So wurden die charakteristischen „Carry On“-Wortspiele immer schlüpfriger und die Hammer Studios lösten mit ihren farbigen Neuauflagen von klassischen Stoffen wie „Dracula“ und „Frankenstein“ einen Horror-Boom aus.

Mick Jagger als Zeremonienmeister

Die Zeit war reif für einen Umbruch: Die 1960er brachten der Insel einen Popkultur-Aufschwung, der globale Kreise zog – Beatles, Bond, Swinging London. Die Reihe „England's Dreaming“ des Filmmuseums folgt dessen Kinospuren von der Rebellion der proletarischen Angry Young Men des „Free Cinema“ zum sauren Ausklang: Von Albert Finney als Prügel-Prolet in Karel Reisz' „Saturday Night and Sunday Morning“ (1960) und Richard Harris als Rugby-Rüpel in Lindsay Andersons „This Sporting Life“ (1961) zu Mick Jagger als Zeremonienmeister des Zerfalls im Pop-Delirium „Performance“ (1970) von Nicolas Roeg und Donald Cammell.

Der „Kitchen Sink“-Realismus von Reisz, Anderson oder Tony Richardson („A Taste of Honey“, 1961) sorgte für eine britische Neue Welle, die auch international künstlerische Beachtung fand: Raritäten der Schau sind „Sparrows Can't Sing“ (1963), der einzige Kinospielfilm der impulsgebenden „Mutter des modernen Theaters“ Joan Littlewood, und Wolf Rillas vernachlässigtes Meisterwerk „The World Ten Times Over“ (1963) über Solidarität unter Prostituierten.

Parallel dazu wollten Regisseure wie Basil Dearden dem Genrekino soziale Relevanz verschaffen: Repräsentiert durch „The Criminal“ (1960), eine brechtische Gesellschaftsstudie in Krimiform des aus den USA vertriebenen Meisterregisseurs Joseph Losey, und „Never Let Go“ (1960), ein kleines Frühwerk des großen John Guillermin. Darin gerät ein Kosmetikartikelvertreter aus wirtschaftlicher Not in kriminelle Kreise – als gemeiner Gangster ist ein Radiokomiker zu sehen, der bald zum Filmstar wurde: Peter Sellers. Überrundet wurde er aber von Sean Connery als Agent 007: Mit dem Welterfolg seines dritten Leinwandabenteuers „Goldfinger“ (1964) wurde jener Pop-Exzess etabliert, der dann die Bond-Kinoserie prägte.

Noch im selben Jahr folgte die parodistische Antwort mit „Carry On Spying“, während Richard Lesters Beatles-Film „A Hard Day's Night“ auf „The Knack...and how to get it“ (1965) hinarbeitete, dem Schlüsselwerk des Londoner Pop-Aufbruchs: Gegen Lesters frivole Frische wirkt der Rest des „Swinging Sixties“-Zeitgeists dann wie eitler Leerlauf der Jetset-Party-People. Als Galionsfigur dient Julie Christie in John Schlesingers modischer Model-Saga „Darling“ (1965) und in Peter Whiteheads Oberflächen-Dokumentation „Tonite Let's All Make Love in London“ (1967). Mittendrin: Michelangelo Antoniois „Blow Up“ (1966), die Kino-Ikone von Swinging London – Leerlauf, zum philosophischen Rätsel aufgeblasen.

Ein definitiver London-Film – aus München

Nicht weniger kunstwillig schilderte ein anderer Durchreisender London als Albtraumstadt: Roman Polanskis „Repulsion“ (1965) schickte Catherine Deneuve in den Wahnsinn. Das Meisterwerk der Epoche kam dagegen von einem Veteranen der Hammer-Horrorfilme: In „The Devil Rides Out“ (1968) schickte Regiegenie Terence Fisher Christopher Lee zurück in die Zeit, zum Kampf gegen das Böse – die Parallelen zur damaligen Hedonismus-Kultur sind nur zu deutlich. Ein Empire in Ruinen, Englands Traum ein Schattenreich: Mit der erschütternden Teenagerstudie „Deep End“ (1970) drehte der Pole Jerzy Skolimowski den letzten definitiven London-Film der Ära bereits hauptsächlich in München. Ist ja irre, möchte man sagen – doch kurz darauf hatte die „Carry On“-Reihe mit einer Klassenkampfsatire ihren ersten Flop und begab sich daraufhin 1972 selbst außer Landes: „Carry On Abroad“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2013)

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