„Feuchtgebiete“: Die niedliche Psychopathin

Erst schaut man ihr ja gerne zu dabei, wie sie alles Mögliche ausprobiert. Doch Helen (bezaubernd: Carla Juri) hat ihre Schattenseiten, und das hat nichts mit dem Blut auf ihren Wangen zu tun.
Erst schaut man ihr ja gerne zu dabei, wie sie alles Mögliche ausprobiert. Doch Helen (bezaubernd: Carla Juri) hat ihre Schattenseiten, und das hat nichts mit dem Blut auf ihren Wangen zu tun.(c) Lunafilm
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Nein, der Film nach dem Buch von Charlotte Roche handelt nicht von Sex mit Gurken, Tampontausch oder Analfissuren. Er handelt von einem Teenager, der bereit ist, alles zu zerstören.

Nein, keine Bange. Diese junge Frau auf dem Bild hat niemanden erdolcht, um sich das Blut dann auf die Backen zu schmieren. Gestatten: Das ist Menstruationsblut; wenn wir das recht verstanden haben, sogar das Menstruationsblut ihrer Freundin: Blutsschwesternschaft also statt Kriegsbemalung, nichts desto trotz ziemlich drastisch. Und das konnte man ja auch erwarten von einer Verfilmung des Skandalromans „Feuchtgebiete“. Ein bisschen Grenzüberschreitung, ziemlich viel Ekel und eine Menge Sex, so wie im Roman von Charlotte Roche auch.

So beginnt der Film denn auch: Sex mit Gurken, Sex mit Karotten, Sex tutti frutti also und das alles betrieben von einem unglaublich niedlichen Teenager, der einen Wuschelkopf sein eigen nennt und das, was man so gerne ein verschmitztes Lächeln nennt. Süß, wie Carla Juri als Helen auf dem Skateboard und im zu weiten Pulli durch die Straßen düst und dabei so unschuldig dreinschaut wie die junge Romy Schneider in ihrer Rolle als Sissi. Da kann man es gar nicht recht eklig finden, wie Helen von ihren Hämorrhoiden spricht und von ihrer Vorliebe, auf öffentlichen Toiletten die Klobrille mit ihrer „Muschi“ abzuwischen. Und es wirkt auch nicht obszön, wenn sie in der Badewanne ausprobiert, welches Gemüse ihr das meiste Vergnügen verschafft.

Das Lolita-Lächeln möge ihr einfrieren

Regisseur David Wnendt findet die hübschesten Bilder dafür, farbenprächtig und wohlkomponiert, veritable Stillleben zaubert er da auf die Leinwand, und dazwischen ein sehr lebendiges Mädchen, das eben gerne an seine und unsere Grenzen geht. Oder auch darüber hinaus. Eh klar, bei diesen Eltern! Über die weiß der Film in etlichen Rückblenden hinlänglich Abstoßendes zu erzählen: Von der Mutter, die das kleine Mädchen auffordert, ihr in die Arme zu springen – sie werde sie schon auffangen! Aber dann landet das kleine Ding ungebremst auf dem Boden. Vertraue niemandem, sagt die Mutter: Besser jetzt gelernt, wo es nur ein paar Schrammen gibt, als nie.

In einer anderen Szene wird die kleine Helen von einer fremden Frau für ihre schönen Wimpern bewundert: „Wenn man für etwas zu viele Komplimente erhält, geht es vielleicht kaputt“, sagt die Mutter.

Das ist leider zu platt, zu einfach, zu küchenpsychologisch, genauso wie die seltsamen Versuche der jungen Heldin, ihre mittlerweile geschiedenen Eltern an ihrem Krankenbett zu versammeln. Dort ist sie gelandet, als sie sich bei einer unvorsichtigen Intimrasur den Anus verletzte. Sehr schmerzhaft, sehr peinlich (die blutige Suppe läuft ihr über die Unterschenkel), und eine gute Gelegenheit, die Eltern wieder zusammenzubringen.

Was schlimmer ist: Nicht nur die Eltern nerven, sondern recht bald auch die Tochter. Erst war man noch entzückt, dann amüsiert, schließlich gelangweilt: Hat diese Helen bitte noch ein anderes Gesicht drauf als das frech-unschuldige? Könnte sie bitte den Schlafzimmerblick absetzen? Wäre es möglich, dass ihr einmal das Lolita-Lächeln einfriert? Danke, es reicht.

Ein Happy End? Das glaube, wer kann

Aber nachdem man sich hinlänglich gelangweilt hat, passiert dann doch noch etwas: Etwas, was am Ende noch einen ganz anderen Blick auf die Geschichte wirft – und damit entfernt sich Wnendt weiter von Charlotte Roches Story, als ihr lieb sein kann: Nein, dieser Film handelt nicht mehr von einem Teenager, der die Welt provoziert, und Spaß an verschiedenen Spielformen des Sex hat – dieses Mädchen entpuppt sich als waschechte Psychopathin: Die Brutalität, mit der sie ihre beste Freundin (ja, die Blutsschwester!) von sich stößt, als diese schwanger wird. Das bekannt niedliche Lächeln in ihren Mundwinkeln, als sie ihrem Bruder die verstörende Botschaft überbringt, dass ihre Mutter versucht hat, ihn umzubringen. Und was, wenn all diese grauenhaften Kindheitsgeschichten gar nicht wahr wären?

Schade, dass der Regisseur sich nicht entscheiden kann, diese Geschichte auszuerzählen: Davor scheut er zurück, die letzten Ereignisse sehen wir im Schnelldurchlauf, Helen verletzt sich selbst schwer, um länger im Krankenhaus bleiben zu können, es folgt eine dramatische Operation, und da gibt es noch diesen Pfleger. . . Wir wollen hier nicht spoilern, nur so viel: Dass das ein Happy End ist, glaube wer kann.

Das Buch

Charlotte Roche war schon als Moderatorin im deutschen Sprachraum bekannt, als sie 2008 den Roman „Feuchtgebiete“ veröffentlichte. Der provokante Roman, der nach Aussagen der Autorin „zu 70 Prozent autobiografisch“ sei, wurde 1,3 Millionen Mal verkauft und hielt sich 30 Wochen an der Spitze der Belletristikcharts. Der Nachfolgeband „Schoßgebete“ – über Sex in der Ehe – konnte an den Erfolg nicht anschließen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2013)

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