"Alle Anderen": Irgendwann ist der Urlaub vorbei

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Maren Ades großer Beziehungsfilm „Alle Anderen“ erzählt von einem Paradies, aus dem die Liebenden doch vertrieben werden bzw. sich selbst vertreiben.

Sie zögert keinen Moment, bevor sie aus dem Zimmerfenster springt, dann liegt Gitti auf dem Rasen, unverletzt, erschöpft. Es ist Liebesbeweis, Verzweiflungstat, Trotzreaktion und einiges mehr. Denn in Maren Ades großem Beziehungsfilm „Alle Anderen“, der im Februar bei der Berlinale den Großen Preis der Jury erhielt, ist nichts festgeschrieben: alles ist (in) Bewegung, alles ist veränderbar. Die Liebe, von der sie erzählt, ist noch jung, unverbraucht: Gitti (zu Recht geehrt mit dem Silbernen Bären: Birgit Minichmayr) und Chris (nuanciert: Lars Eidinger) haben sich noch keine Rollen zugeschanzt, ihr Verhältnis zueinander mutiert kontinuierlich.

Losgelöst vom Erfolgsdruck

Man kann – da die 32-jährige Ade ihren ersten Langfilm fast nur chronologisch gedreht hat – den Protagonisten zusehen, wie sie neue Seiten aneinander entdecken und von einem Extrem ins andere fallen. „Ich liebe dich. Manchmal hasse ich dich auch“, sagt sie ihm. Dann fällt er ihr ins Wort. Zu viel Ehrlichkeit für diesen paradiesischen Sommer auf Sardinien: ein paar Wochen, losgelöst von der Leistungsgesellschaft, vom Funktionieren, vom Erfolgsdruck.

Maren Ade lässt sie spielen, fast wie Kinder: Gitti schminkt ihn, sie blödeln im Supermarkt. „Alle Anderen“ wirkt oft wie aus dem Leben geschrieben: Vier Jahre saß die Regisseurin über dem Buch. Es ist organisch gewachsen, mit all den eingeflossenen Beobachtungen, mit dem Leben von Ade selbst. Das sieht man: „Alle Anderen“ lebt von den wortverspielten Dialogen, die aber niemals Gefahr laufen, so aseptisch und bedeutungsvoll zu wirken wie in anderen deutschen Beziehungsfilmen.

Über die Sprache findet Maren Ade zu ihren Figuren. Mindestens ebenso wichtig sind aber die kleinen Gesten, Blicke, Geräusche und Handbewegungen, die Körper insgesamt. Zeitweise fragt man sich, wie „Alle Anderen“ wohl ausgehen würde, wenn zur Filmmitte hin nicht zwei weitere Hauptfiguren auftauchen würden, wenn Gitti und Chris nur sich hätten, die Utopie von Zweisamkeit bis zum Ende hin spielen könnten.

Es würde vermutlich nichts ändern: Denn all das, was Hans (Hans-Jochen Wagner) und Sana (Nicole Marischka) in den beiden auslösen, ist von Anfang an in ihnen angelegt, Teil von ihnen. Zufällig treffen sie auf das ihnen bekannte Paar, er erfolgreicher Architekt, sie Künstlerin. Sie stehen in der Gesellschaftshierarchie, in der Hackordnung ein paar Stufen über Gitti und Chris. Und damit setzt deren freies, unbekümmertes (Liebes-)Spiel aus.

Ersetzt wird es durch Zweckbestimmtheit: Jungarchitekt Chris will seinem älteren Kollegen einen guten Eindruck vermitteln, will ihn glauben machen, dass er schon eingebogen ist auf die Erfolgsstraße. Fleiß, harte Arbeit, sorgloses Leben: Müßiggang und Orientierungslosigkeit passen nicht in dieses Bild. Maren Ade bringt das in außergewöhnlichen Sequenzen zum Ausdruck: Gitti und Chris laden die Anderen zum Abendessen in das elterliche Sommerhaus auf Sardinien ein. Zuerst tischt er das knallbunte Service seiner Mutter auf, räumt es aber noch ab, bevor Hans und Sana eintreffen: zu schrill, zu peinlich.

Verrat der Wurzeln und des Selbst

Später schlendern die Architektenkollegen durch die Räume, belächeln die Einrichtung, verspotten die Glasfigurensammlung und die Grönemeyer-Nummer, die durch das Haus schallt. Chris verrät sich selbst, seine Familie, seine Wurzeln. Spätestens da wächst „Alle Anderen“ über einen Beziehungsfilm hinaus, denkt – unprätentiös und uneitel – über Statusdenken und Klassenbewusstsein nach, darüber, was Gesellschaft ausmacht. Denn irgendwann, das weiß Maren Ade, das wissen ihre Figuren, ist auch der längste Urlaub vorbei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2009)

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