„Lion“: Das Drama eines verirrten Kindes

Lion - Der lange Weg nach Hause
Lion - Der lange Weg nach Hause(c) Constantin
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Ein fünfjähriger Bub in einer fremden Stadt: „Lion – Der lange Weg nach Hause“ erzählt eine wahre, rührende Geschichte – und erntete sechs Oscar-Nominierungen.

Es ist kein Spoiler, wenn man hier verrät, dass diese Geschichte gut ausgeht. Täte sie das nicht, wäre wohl kein Film daraus geworden. So musste sogar einer daraus werden: Wenn ein armes Kind seine Familie und seine Heimat verliert, woanders ein neues Leben im Wohlstand aufbaut und Jahre später mithilfe moderner Technologie zu seinen Wurzeln zurückfindet, wenn so etwas wirklich passiert, dann kann Hollywood doch gar nicht anders, als dieses kleine Wunder aufzugreifen.

Saroo Brierley ist das Wunder wirklich passiert: Der indische Schriftsteller schlief als fünfjähriger Bub in einem Zug ein und erwachte Stunden später in Kalkutta, wo kaum jemand seine Sprache sprach. Nach einigen Wochen auf der Straße kam er in ein Waisenhaus, wurde schließlich von einem australischen Paar adoptiert. 25 Jahre später rekonstruierte er seine Reise mithilfe der spärlichen Erinnerungen, die ihm geblieben waren, und der Satellitenbilder auf Google Earth – und fand tatsächlich das Dorf, in dem er als Kind gelebt hatte. Sein Buch „A Long Way Home“ erschien 2014, dessen Verfilmung „Lion – Der lange Weg nach Hause“ von Garth Davis, der damit seinen ersten Spielfilm vorlegt, kommt nun ins Kino. Es wirkt nicht allzu schwer, aus dieser Vorlage einen bewegenden Abendfüller zu machen, und Davis erfüllt seine Aufgabe gewissenhaft, wenn auch ohne jeglichen künstlerischen Wagemut: Er zeigt mit Liebe zum Detail das Leben des jungen Saroo (beeindruckend: Sunny Pawar), eines aufgeweckten Buben, der in armen Verhältnissen aufwächst, gierig auf dem Markt nach den Süßigkeiten schielt, die sich seine Familie nie leisten kann, und es liebt, mit seinem Bruder loszuziehen, um Arbeit zu suchen. In einer dieser Nächte besteigt Saroo auf der Suche nach seinem Bruder einen Zug – und schläft ein.

Etwas zu üppiger Klavier-Soundtrack

Erst 1600 Kilometer weiter kann er wieder aussteigen. In staubigen, aber farbenfrohen Bildern fängt der Film die Gedankenwelt des Kindes ein, das sich allein in der chaotischen Großstadt zurechtfinden muss, wo es auf Nachfragen nach seinem Bruder, seiner Mutter, selbst nach seinem Heimatort nur Kopfschütteln erntet – später wird der Bub herausfinden, dass er den Namen stets falsch ausgesprochen hat. Bald sieht er ein, dass es von hier keinen Weg zurück gibt – und er beginnt, sich auf sein neues Zuhause zu freuen.

Saroo gelangt nach Tasmanien, der Film fliegt über die Jahre und wird in seiner zweiten Hälfte zur Leistungsschau prominenter Schauspieler: Dev Patel, der als Hauptfigur von „Slumdog Millionaire“ schlagartig berühmt wurde, spielt den erwachsenen Saroo, einen freundlichen Studenten, der bei einem indischen Essen plötzlich die Sehnsucht nach der fast schon vergessenen Heimat spürt. Mit der Unterstützung seiner Freundin (Rooney Mara) durchkämmt er die Luftaufnahmen Hunderter indischer Bahnhöfe, rechnet mit Distanzen und Bahngeschwindigkeiten und sucht in der endlosen Weite der virtuellen Landschaft nach vertrauten Orten. Auch wenn die stetige Klaviermusik, die hier für Extra-Emotionen sorgen soll, etwas dick aufgetragen ist: Einer Laptop-Recherche solche Dramatik zu verleihen, ist eine ordentliche Leistung.

In der Rolle der Adoptivmutter, die weiß, dass sie ihren Sohn gehen lassen muss, Nicole Kidman: Ohne Worte lässt sie ihren Schmerz spüren, aber auch ihre Liebe. Vor allem dank ihr gelingt „Lion“ etwas Beachtliches: Er zelebriert – auf ganz unideologische Art – Werte wie Heimat und Familie, den Fortschritt der Technik wie auch die Sehnsucht nach Beständigkeit. Er zeigt, dass die Welt groß, dass Wandel oft etwas Gutes ist – und dass es helfen kann, seine Wurzeln zu kennen, um das nicht zu vergessen.

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