Oscar-Magie: Zurück in die gute alte Zeit!

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OscarMagie Zurueck gute alte(c) AP (Joel Ryan)
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„The Artist“ war der ideale Sieger für die von Veralterung bedrohten Academy Awards: Im Zeitalter digitaler Filmbilder gibt der Quasi-Stummfilm altmodischen Kinoträumen noch einmal ein menschliches Gesicht.

Der lustigste Moment der 84. Academy Awards kam, als Meryl Streep, ganz Grande Dame, auf die Bühne stieg, um den dritten Darstellerinnen-Oscar ihrer Karriere für ihr Porträt von Margaret Thatcher in „The Iron Lady“ abzuholen: „Als mein Name aufgerufen wurde, hatte ich das Gefühl, halb Amerika stöhnen zu hören: ,Nicht die schon wieder!‘“. Als einsame Rekordhalterin mit bis dato 17 Nominierungen ist Streep eine Oscar-Institution. Als solche übermannten sie dann doch pflichtschuldig Tränen der Rührung, als sie das Lob der Freundschaft anstimmte und zweifelte, ob sie noch einmal „hier oben“ stehen würde.

Insofern war es auch der bezeichnende Moment der 84. Oscar-Gala: Denn die Academy Awards selbst sind eine Institution mit zweifelhaften Zukunftsaussichten. Sie zehren vom Glanz einer ruhmreichen Vergangenheit als Inbegriff von Hollywood-Glamour. Zur Traumfabrik-Eigenwerbung erfunden, erfüllen sie noch ihren Zweck, aber in Zeiten des Quotendrucks droht Veralterung. Die Sorge stieg, als die Grammys heuer nach Whitney Houstons Tod höhere US-Einschaltquoten (40 Millionen) erzielten als die letzte Oscar-Gala. Denn die Academy Awards sind noch das erfolgreichstes TV-Ereignis ihrer Art, obwohl sie schon länger sichtlich um Publikumsnachwuchs kämpfen. Frischzellenkur-Versuche – jüngere Moderatoren, leichte Änderungen der Regeln – brachten wenig, heuer kehrte man also ganz in den Schoß der Tradition zurück.

Steht der Oscar noch für populäres Kino?

So trat mit Billy Crystal ein bewährter Moderator in die angegrauten Fußstapfen des Rekordhalters Bob Hope: ganz alte Schule, mit einer Melange aus nicht zu scharfem Wortwitz und Musikeinlagen. Ein Abend im Zeichen der Nostalgie. Zugegebenermaßen hatten die zwei favorisierten Filme diese Stoßrichtung vorgegeben: „The Artist“, eine französische Hommage an Hollywoods ausklingende Stummfilmzeit, und Martin Scorseses „Hugo“, eine digitale 3-D-Kinderfantasie, die zum Loblied auf den Pariser Kinopionier George Méliès wird. Mit salomonischem Gleichmut erkannte die Academy letztlich beiden Filmen jeweils fünf Oscars zu.

Doch blieb „The Artist“ Sieger. Scorseses aufwendiges Historienstück ging erst dank technischer Kategorien – von der Kamera bis zu den visuellen Effekten – klar in Führung, am Ende räumte der Konkurrent bei den Hauptpreisen ab: bester Film, beste Regie (Michael Hazanavicius) bester Hauptdarsteller (Jean Dujardin). Es kam, wie es Harvey Weinstein, König der Oscar-Kampagnen, für seinen Kandidaten The Artist eingefädelt hatte: David besiegte Goliath.

Aber was heißt die Formulierung heute im Oscar-Kontext? Vorbei die Zeiten, als die wahren Goliaths das Oscar-Rennen anheizten, auch daher das Nachwuchsproblem bei den Oscar-Zusehern: Bis auf Ausnahmen wie „Der Herr der Ringe“ bleiben die erfolgreichsten Filme am Rand. Die zwei Kassenknüller 2011 – der letzte „Harry-Potter“-Teil und der Action-Blockbuster „Transformers 3“ – waren für Dekor oder Effekte nominiert, gingen aber leer aus. Bis in die 1990er war der „beste Film“ üblicherweise unter den Top 20 an der Kassa – in der letzten Dekade schaffte es ein Drittel auf hintere Ränge.

Der Kurs der Academy ist nachvollziehbar, auch wenn ihre Zusammensetzung (94 % weiß, 77 % männlich, 86 % über 50 Jahre) dazu beiträgt: Den Kinomarkt dominiert Ware für Teenager. Sollen Sex-Lustspiele wie „The Hangover 2“ und Raser-Fortsetzungen wie „Fast Five“ auch bei den prestigeträchtigen Oscars abräumen? So sind die Oscars nicht mehr ein populärer Preis im umfassenden Sinne, sondern einer der Ära von Nischenprodukten. Wie 2011 „The King's Speech“ – noch ein Weinstein-Kandidat – steht „The Artist“ für elitären Populismus: niveauvolles, risikoarmes Unterhaltungskino altmodischer Art, das eine Nostalgie nach bestimmten Erzähltraditionen ferner Dekaden bedient. Ein enormer Erfolg ist „The Artist“ nur relativ – nämlich für einen Film, der als publikumsfreundliches Festivalkino lanciert wurde (die Kampagne vermarktete angeblich unkommerzielle Zutaten – fast stumm, Schwarz-Weiß, etc. – dann erfolgreich als originell). Und „Hugo“, Scorseses kommerziellstes Projekt, war auch kein echter Hit.

Erster Stummfilm-Sieger seit 1929

Wirklich unkommerziell denkt die Academy aber nie, eher hat man sich in einer noch existierenden Seifenblase eingerichtet. Da ist der Triumph von „The Artist“ besonders vielsagend: Während Mainstream-Kino in virtuelle Welten zwischen 3-D-Effekten und Computeranimationen abdriftet, gibt der Quasi-Stummfilm dem nostalgischen Kinomagie-Traumbild noch einmal menschliche Gesichter, vor allem das sehr einnehmende von Hauptdarsteller Dujardin. Da ist „Hugo“ vieldeutiger: Scorsese versucht nicht nur selbst die Fusion modernster Tricktechnik mit alten Kinoträumen, er erzählt auch vom Überleben der Filmgeschichte – der Großteil des Werks von Kinozauberer Méliès galt lange als verschollen, wiederentdeckt wurde vieles dank der Langlebigkeit von Filmmaterial. Noch heute ziehen die Studios zur Archivierung Filmkopien ihrer Digitalprodukte. Wie lange noch, wenn die Filmprojektion in absehbar kürzester Zeit obsolet wird?

Das flockige (und unter der Hand anachronistische) Stummfilm-Pastiche in „The Artist“ lässt solche Fragen gar nicht erst aufkommen: Seine Klage über das Ende einer Ära geht nahtlos in die Feier der Ankunft des Tonfilms über – weiter zur profitableren nächsten Stufe, so wie heute in die digitale Ära. Als erster Stummfilm-Sieger seit der ersten Gala 1929 sollte der 84. Oscar-Gewinner die Academy-Mitglieder daran erinnern, dass es ihnen bald gehen könnte wie dessen Titelhelden, einem Stummfilm-Star, der obsolet wird, als er sich gegen Neuerungen sperrt. Aber sie träumen wohl lieber davon, dass ihnen dasselbe augenzwinkernde Happy End vergönnt ist: pure Kinomagie!

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