St. Petersburger: Sparsame Gestik, reicher Gehalt

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Im Wiener Musikverein zeigen sich die russischen Philharmoniker unter Musikdirektor Yuri Temirkanow in blendender Form. Solist am ersten Abend ihres Gastspiels war Nelson Freire.

War das eine Überraschung, als 1988 die Leningrader Philharmoniker zum Nachfolger ihres Langzeit-Chefdirigenten Jewgenij Mrawinskij nicht den als Favoriten gehandelten Mariss Jansons, sondern den Musikdirektor des St. Petersburger Mariinsky-Theaters, Yuri Temirkanow, kürten! Viele fragen sich: Wird er das Niveau des bedeutendsten sowjetischen Klangkörpers halten können? Längst weiß man: Er konnte. Temirkanow und seine St. Petersburger, wie sich das Orchester wieder nennen darf, haben zu einer idealen Symbiose gefunden, das zeigten sie auch am ersten Abend ihres Gastspiels in Wien.

Man muss lange nachdenken, ehe man sich an eine derart spannend musizierte Zehnte Schostakowitsch erinnern kann. Schon wie Temirkanow, wie gewohnt ohne Taktstock dirigierend, mit geradezu minimalistischen Bewegungen Temporückungen herbeiführte, Steigerungen entfachte, Übergänge gestaltete, war ein Ereignis. Nicht nur jüngere, gern mit der Bezeichnung Shootingstars versehene Kollegen sollten sich hier ein Beispiel nehmen.

So konnten sich die schlafwandlerisch sicher aufeinander eingespielten Musiker auf den Inhalt dieser e-Moll-Symphonie konzentrieren, ihre epische Weite ausbreiten, ab dem zweiten Satz mit vorwärtsdrängender Attitüde brillieren, ohne je Gefahr zu laufen, sich in hohler Brillanz zu ergehen. Dazu könnte diese dem weiten Thema Frieden gewidmete Symphonie verführen, würde man es bei der effektvollen Hervorkehrung ihrer virtuosen Abschnitte belassen. Dem baute Temirkanows zwingende Dramaturgie souverän vor.

Nelson Freire mit Brahms: Exzeptionell

Auch für den ersten Teil ihres ersten Wiener Gastspielabends – den zweiten bestritten sie mit einem Prokofieff-Mendelssohn-Dvorák-Programm – hatten die russischen Gäste einen Klassiker mitgebracht: das zweite Brahms-Klavierkonzert. War es Zufall oder bewusste Regie, dass dieses tags zuvor mit den Wiener Philharmonikern unter Andris Nelsons mit Hélène Grimaud als Solistin im Konzerthaus zu hören war? Auffallend war nicht nur der Unterschied in der Gestik beider Dirigenten – ausladend bei Nelson, spartanisch bei Temirkanow –, sondern auch der Zugang der Solisten zu diesem Werk, das Brahms untertreibend als „ein paar kleine Klavierstücke“ bezeichnet hatte. Genau das ist dieses viersätzige Opus nicht. Vielmehr ein technisch wie musikalisch kompliziertestes Stück, für das man höchste manuelle Fertigkeit braucht, um sich auf alle musikalischen Feinheiten konzentrieren zu können. Das zeigte Nelson Freire mit seiner eloquent-musikantischen Deutung vor.
Grimaud gelangen einige schöne lyrische Momente, mit Freires differenziert weitem Atem konnte sie nicht konkurrieren. Dafür machte ihr die Vollgriffigkeit ihres Parts hörbar zu große Probleme. dob

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2012)

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